Stellen Sie sich vor, Sie angeln gemeinsam mit einem guten Bekannten an einem Fluss. Plötzlich wird die Stille von einem Hilferuf gestört. Mitten im Fluss treibt ein Kind, das zu ertrinken droht. Beherzt springen Sie und Ihr Bekannter in den Fluss und retten das Kind. Kaum haben Sie es sicher ans Land gebracht, ertönt erneut ein Hilfeschrei. Ein weiteres Kind droht mitten im Fluss zu ertrinken. Selbstverständlich retten Sie das ertrinkende Kind, nur um festzustellen, dass noch eines flussabwärts treibt. Während Sie erneut ins Wasser springen, macht sich Ihr Bekannter mit den Worten auf den Weg: „Ich knöpfe mir jetzt den Kerl vor, der ständig Kinder in den Fluss wirft.“
Dieser Bekannte sucht stromaufwärts nach der Ursache des Problems, sagt Dan Heath in seinem Buch „Upstream – The Quest to Solve Problems Before They Happen“. Er tut damit etwas, was viele in der Hektik des Krisengeschehens vernachlässigen: Sie versäumen es, innerlich einen Schritt zurückzutreten, nach der Ursache für die Notlage zu fragen und über präventive Maßnahmen nachzudenken.
Es gibt einen wesentlichen Unterschied zwischen dem, was Dan Heath „flussaufwärtsdenken“ nennt und Krisenmodus. Darüber möchte ich mit Ihnen kurz nachdenken.
Flussabwärts – der Krisenmodus
Im Krisenmodus ist das Problem klar, die erforderlichen Gegenmaßnahmen konkret. Dementsprechend arbeiten alle Beteiligten konzentriert und zielgerichtet. Erfolge werden in der Regel schnell sichtbar. Wenn ein Kind zu ertrinken droht, schmiedet man keine Strategien. Man muss ins Wasser springen und den Ertrinkenden retten. Brennt es, versucht man selber zu löschen oder man greift zum Telefonhörer und verständigt die Feuerwehr.
Flussabwärts sind Denken und Handeln leicht.
Flussaufwärts – der Planungsmodus
Völlig anderer Natur sind die Maßnahmen, die das „Flussaufwärtsdenken“ fordert. Im oben beschriebenen Fall stellt sich die Frage: Warum sind die Kinder ins Wasser gefallen? Haben die Kinder unbeaufsichtigt am Ufer gespielt? Warum können sie nicht schwimmen bzw. warum tragen die Kinder keine Schwimmflügel, etc.?
Wer flussaufwärts denkt, stellt völlig andere Fragen. Mit Blick auf einen potenziellen Hausbrand könnte man sich fragen: Was könnte Feuer verursachen? Welche Maßnahmen, vielleicht sogar Bündel an Maßnahmen, würden vorbeugend wirken? Würden Rauchmelder helfen? Wäre eine Überprüfung der elektrischen Leitungen angesagt? Was ist mit der Gasleitung? Gibt es einen Blitzableiter? Verfügt der Haushalt bzw. das Haus über ausreichend Feuerlöscher? Wissen die Bewohner, wie man Feuerlöscher bedient?
Menschen tun sich deutlich schwerer mit dem Flussaufwärtsdenken. Woran könnte das liegen? Warum fällt Prävention so schwer?
Blind fürs Problem?
Manchmal sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht. Mit anderen Worten: Das eigentliche Problem wird als solches entweder nicht erkannt oder es wird als unabwendbares Risiko einfach hingenommen. „Das ist halt so. Das ist der Preis, den wir zahlen müssen. Wir haben keinen Einfluss.“ – So lauten typische Reaktionen von Menschen, die auf ein bestimmtes Problem angesprochen werden.
Haben Sie sich schon einmal gefragt, warum wir in zurückliegenden Jahren eine schwerwiegende Influenza-Saison mit über 20.000 Toten hatten und in diesem Jahr nur wenige Hundert starben? Die strengen Hygiene-Maßnahmen in diesem Jahr haben wesentlich zu dem milden Verlauf der Grippe beigetragen.
Was für Coronaviren gilt, trifft auch für die Influenza oder Rhinoviren (Krankheitserreger, die für Schnupfen verantwortlich sind) zu: Sie werden vorwiegend per Tröpfcheninfektion weitergegeben.
Obwohl mir das schon lang bekannt ist, habe ich in zurückliegenden Jahren die winterliche Grippewelle als unabwendbares Übel hingenommen, das einen erwischt oder auch nicht. Heute, mit der Erfahrung von 6 Monaten Corona-Pandemie weiß ich, dass ich mich nicht nur vor COVID-19, sondern auch vor der jährlich wiederkehrenden Influenza wirkungsvoll schützen kann. Ein Mundnasenschutz und ein bisschen mehr Abstand zum Nächsten können erstaunliche Resultate zeitigen.
Nicht meine Baustelle!
Kennen Sie dieses Verhalten? Sie sehen ein Problem, aber die Mitarbeiter um Sie herum erklären sich für nicht zuständig. Was auch immer die Motive sind, sie beharren darauf, dass es nicht ihre Baustelle ist und sie sich deshalb nicht für zuständig halten.
Flussaufwärtsdenken bedeutet unter Umständen, Verantwortung zu übernehmen und zu handeln. Dan Heath erwähnt das Beispiel eines Kinderarztes, der sich in den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts für die verpflichtende Einführung von Sicherheitssitzen für Kinder im Auto stark machte. Das hätte er nicht tun müssen. Er hätte darauf verweisen können, dass die Sicherheit von Kindern im Straßenverkehr nicht seinen Verantwortungsbereich betraf. Aber genau das tat er nicht. Weil er „flussaufwärts“ dachte, mischte er sich ein und sorgte mit seiner Lobbyarbeit für das Überleben vieler tausender Kinder.
Im Tunnel
Manchmal sind die Probleme derart überwältigend, dass – quasi als Schutzreaktion – eine Art Tunnelblick entwickelt wird.
Wer im Tunnel steckt, kennt nur eine Richtung: vorwärts, denn nach links oder rechts ausweichen geht nicht. Im Konkreten sieht das dann so aus, dass das, was nicht dringend erledigt werden muss, auf später verschoben wird. Und weil „flussaufwärtsdenken“ nicht zu den dringenden Dingen gehört, findet es einfach nicht statt.
Was ich mitnehme
So sehr eine Krise mich zum schnellen Handeln motiviert, so wichtig ist es, trotzdem den Überblick zu behalten und sich Fragen zu stellen, die in die Kategorie „flussaufwärtsdenken“ gehören.