Wenn es richtig zur Sache geht

Podcast: Wenn es richtig zur Sache geht

Kurz & knapp: In einem Gastartikel beschreibt Christian Muntean eine praktische und zugleich nachhaltige Art Konfliktsituationen zu entschärfen. 


Vor kurzem habe ich einen Artikel von Christian Muntean gelesen, der mich nachdenklich gestimmt hat. Ich fand das, was er schrieb, so wichtig, dass ich es mit Ihnen teilen wollte. Also habe ich Kontakt zu ihm aufgenommen und er hat mir freundlicherweise erlaubt, nachstehenden Artikel auf Deutsch zu veröffentlichen. 

Christian Muntean ist Unternehmensberater mit internationaler Erfahrung. Er lebt und arbeitet in Anchorage, Alaska.

Studentische Erfahrungen in Bethlehem

Mitte der 90er Jahre lebte ich als Student in der palästinensischen Gemeinde Bethlehem im Westjordanland. Wir nannten den Stadtteil, in dem ich lebte, halb scherzhaft „Hamas Central“. Zu diesem Zeitpunkt galt die Hamas als terroristische Organisation. Das Umfeld konnte gelegentlich ein wenig anstrengend werden.

Meine Mitbewohner und ich lernten Arabisch und übten oft mit unseren Nachbarn. In dem Gebäude, in dem wir wohnten, hatte ein Beduine einen kleinen Laden. Sein Name war Muhammed.

Muhammed war alt. Er war ein Hadschi, das ist ein Ehrentitel für jemanden, der seine Pilgerreise nach Mekka gemacht hat. Dementsprechend war er geachtet.

Aus irgendeinem Grund freundete er sich mit meinen Mitbewohnern und mir an. Wir waren jung, aus dem Westen und Christen. Was im Zusammenhang mit der „Hamas-Zentrale“ besonders ungünstig war.

Sein Laden befand sich neben der Treppe, die zu unserer Wohnung führte. Muhammed praktizierte uns gegenüber Gastfreundschaft. Manchmal konnten wir buchstäblich nicht an ihm vorbeikommen. Er zog uns in seinen Laden und zwang uns, die Namen seiner Waren auf Arabisch aufzusagen. Er servierte uns Tee oder Kaffee und unterhielt sich mit uns.

Manchmal schimpften seine Freunde oder einige seiner Familienmitglieder mit ihm, weil er so freundlich zu uns war. Wir hatten nicht darum gebeten. Ihre Bedenken wurden von Muhammed (teils lautstark) abgetan. Er ließ es sich nicht nehmen, weiterhin gastfreundlich zu sein.

Der Streit

Eines Tages kam es zu einer Schlägerei. Von meiner Wohnung im dritten Stock aus konnte ich sie aus der Vogelperspektive beobachten. 

Ein Mob hatte sich versammelt und bildete einen großen Haufen von mindestens zwanzig bis dreißig Steithähnen und Schaulustigen. Schnell entstanden Parteien. Jemand warf einen Fernseher aus dem Fenster. Andere sprangen auf ein Auto. Die Leute bewaffneten sich. Ich konnte sehen, wie ein Mann ein Brecheisen zückte. Einige hielten andere zurück. Alle schrieen wild durcheinander.

Dann stand Muhammed langsam auf und ging aus seinem Laden, direkt in die Menge hinein. Wie durch ein Wunder öffnete sich die Menge und machte Platz für ihn. Er stellte sich direkt in die Mitte und hob die Hände. Alle beruhigten sich.

Ich weiß nicht, was er sagte, aber er war ruhig. Er sprach zu beiden Seiten. Die wütende Menge beruhigte sich. Bald begannen die ersten sich umzudrehen und wegzugehen.

Irgendwie übertrug sich seine Ruhe auf alle.

Der entgegengesetzte Geist

Dies war ein Beispiel für ein Konzept, von dem ich später erfuhr, dass es „Handeln im entgegengesetzten Geist“ heißt.

Muhammed demonstrierte Sanftmut und Frieden. Alle anderen verlangten lautstark Gewalt oder Rache. Er handelte im entgegengesetzten Geist, und das veränderte die Menschenmenge.

Wir waren Außenseiter. In vielerlei Hinsicht entsprachen wir dem Profil eines idealen Ziels in „Hamas Central“. Aber er hat uns Gastfreundschaft und Herzlichkeit entgegengebracht. Muhammed behandelte uns mit dem entgegengesetzten Geist. Als wir später mehr über das Viertel erfuhren, in dem wir uns befanden, erkannten wir, dass seine Akzeptanz uns dort schützte.

Wie sieht es aus, wenn man im gegenteiligen Sinne handelt?

In jeder Gruppe neigt man dazu, ein gemeinsames Gefühl zu entwickeln. Man könnte es die Atmosphäre oder Stimmung nennen. In diesem Artikel verwende ich das Wort Geist.

Unabhängig davon, ob jemand politisch links oder rechts steht, scheint es derzeit einen gemeinsamen Geist der Wut, der Unfähigkeit zuzuhören, der mangelnden Neugier, der vorschnellen Verurteilung und der Falschdarstellung zu geben.

In Beziehungen oder am Arbeitsplatz kann ein Geist des Grolls, des Anspruchs, des Geizes oder der Rücksichtslosigkeit entstehen.

Der „entgegengesetzte Geist“ kann so aussehen, dass man sanftmütig, neugierig und zuhörend bleibt, wenn andere wütend, urteilend und laut sind.

Es kann so aussehen, dass man dann großzügig ist, wenn andere geizig, gierig oder von einem Gefühl des Mangels getrieben sind.

Es kann so aussehen, dass man sich entscheidet, Gründe für Hoffnung zu finden, statt Gründe für Zynismus.

Es kann bedeuten, mit Integrität zu sprechen und zu handeln, wenn andere manipulieren oder die Wahrheit verdrehen.

Mein Experiment mit dem „Handeln im entgegengesetzten Geist“

Nach meiner Zeit im Nahen Osten kehrte ich nach Hause zurück, um mein Studium fortzusetzen. Um mir etwas Geld zu verdienen, nahm ich eine Stelle als Barista in einem Café an.

Ich hatte Jahre zuvor als 19-Jähriger ein eigenes kleines Café eröffnet, war also mit der Arbeit vertraut. Aber jetzt, in diesem Shop, verhielt sich eine meiner Kolleginnen mir gegenüber besonders herablassend.

Anfangs nahm ich sogar an, sie sei eine Managerin, weil sie so anspruchsvoll und kritisch war. Niemand stellte sie und ihr Verhalten jemals in Frage. Ich begann, sie abzulehnen.

Dann erinnerte ich mich an die Lektion „im umgekehrten Sinne handeln“. Aber ich war mir nicht sicher, wie ich sie in dieser Situation anwenden sollte. Schließlich ging es hier um Fairness, Gerechtigkeit und eine würdevolle Behandlung. Ich hatte nichts davon von ihr bekommen. 

Ich entschied mich, das Konzept auf die Probe zu stellen und beschloss, dass ich dort, wo sie herrisch war, versuchen würde, ihr zu dienen. Wo sie herablassend war, wollte ich versuchen, ihr gegenüber respektvoll zu sein.

Das war nicht leicht.

Aber mit der Zeit passierten ein paar erstaunliche Dinge:

Ich merkte, dass ich mich veränderte. Beispielsweise hörte ich auf, nachtragend zu sein, was bedeutete, dass ich viel mehr Frieden fand. Ich ging nicht mehr mit einem frustrierten Gefühl nach Hause.

Im Laufe eines Monats oder so änderte sie ihre Beziehung zu mir. Sie sagte mir nicht mehr, was ich tun sollte. Stattdessen begann sie, mich mit dem normalen kollegialen Respekt zu behandeln.

Einmal bemerkte ich, dass sie einen schlechten Tag hatte. Ich erkundigte mich, wie es ihr ging und mit einem Mal brach der Damm. Sie öffnete sich und erzählte von den Herausforderungen, mit denen sie konfrontiert war. Ich hörte zu.

In unserer Beziehung hatte sich etwas verändert. Alles, was ich getan hatte, war, das Gegenteil zu tun. Das war nicht leicht gewesen.

Seitdem habe ich gelernt, dass das „Handeln im entgegengesetzten Geist“ eine starke Kraft für Veränderungen ist.

Aber es ist nicht einfach. Es ist kontraintuitiv. Es fühlt sich an, als würde ich mein Recht auf Gerechtigkeit aufgeben.

Fünfundzwanzig Jahre später ist es immer noch nicht meine erste Reaktion, wenn ich das Gefühl habe, dass mir Unrecht angetan wird oder wenn ich mit Wut, Hass, Beklemmung, einem Gefühl des Mangels oder etwas anderem konfrontiert werde.

Aber wenn ich mich daran erinnere und mich zurücknehme, dann funktioniert es. Die Dinge ändern sich. 

In mir ist die Überzeugung gereift, dass wir Führungskräfte brauchen, die im „entgegengesetzten Geist“ führen.

Ich denke, Sie verstehen, worauf ich hinauswill.

Natürlich wird es immer begründete Einwände dagegen geben, im entgegengesetzten Geist zu handeln: „Das ist nicht fair.“ Oder: „Wir sollten das nicht hinnehmen müssen.“ „Die Verantwortlichen sollten diejenigen sein, die sich zuerst ändern.“

Diese Einwände sind verständlich.

Aber letztlich können wir niemanden verändern. Wir können nur uns selbst kontrollieren. Glauben Sie mir, es liegt eine große Macht darin, wie wir mit uns selbst umgehen. 

Wenn wir das Prinzip des „Handelns im umgekehrten Sinne“ praktizieren, können wir unglaubliche Veränderungen bewirken. Das ist oft effektiver als die bloße Forderung nach Veränderung.

Dazu brauchen wir Führungspersönlichkeiten, die bereit sind, diese Veränderung zu bewirken.

Sind Sie dazu bereit?

Über den Autor:

Christian Muntean, Präsident von Vantage Consulting, arbeitet mit erfolgreichen Führungskräften und Teams zusammen, um sie beim Wachstum ihrer Unternehmen zu unterstützen. Zu seinen Kunden gehören Fortune-500-Unternehmen, kleine und mittlere Unternehmen und gemeinnützige Organisationen.  Er ist Autor des Buchs Conflict and Leadership: How to Harness Conflict to Build Better Leaders and Thriving Teams. Hier ist der Link zur englischen Ausgabe

Foto: Christian Muntean, mit freundlicher Genehmigung

Zu guter Letzt

Soweit der Gastbeitrag von Christian Muntean. Ich möchte Ihnen für Ihr Interesse danken und gleichzeitig die Einladung aussprechen, sich auf meinem Blog umzusehen. Sie finden Hunderte von Artikeln nach den Rubriken LeitenLebenpersönliche Entwicklung und Produktivität geordnet. Eine Auswahl stelle ich auch als Audiofassungen zur Verfügung. Sie finden diese unter dem Reiter Podcast. Seit knapp zwei Jahren schreibe ich sonntags einen kurzen spirituellen Impuls

Mehr zu entdecken

Neue Beiträge, die helfen werden

Sie haben ein Herz für das Thema leiten und leben? Oftmals hilft hier und da eine kleine Strategie, inspirierende Impulse.

Ich schreibe jede Woche frische Beiträge, die helfen, im Leben und in der Leiterschaft erfolgreich zu sein.