Wieso Welterklärer, werden Sie vielleicht fragen? Und weshalb soll ich mich in Acht nehmen? Nun, genau darum soll es heute gehen.
Wussten Sie, was Ihr Gehirn besonders gut kann? Es brilliert darin, Sinneseindrücke aufzunehmen, zu verarbeiten und ihnen Bedeutung zu geben. Unser Verstand ist ein meisterhafter Welterklärer, denn alles, was Sie sehen, hören, fühlen, schmecken oder riechen wird nicht nur wahrgenommen. Es wird automatisch mit unserer Erinnerung abgeglichen und interpretiert. Unsere Gehirne sind blitzschnell in der Lage, eine schlüssige Deutung bereitzustellen. Sie vermögen es, jede Menge Sinn zu stiften. Und genauso reichlich Unsinn.
Ein bewegendes Beispiel
In seinem Weltbestseller Die 7 Wege zur Effektivität: Prinzipien für persönlichen und beruflichen Erfolg schildert Steven Covey folgende Begebenheit. Sie hat sich in einer New Yorker U-Bahn zugetragen.
Zwei Kinder verhalten sich ungezogen und stören die anderen im Zug, während ihr Vater teilnahmslos auf seinem Sitz verharrt. Die Mitreisenden regen sich auf. Warum kümmert der Mann sich nicht um seine schlecht erzogenen Kinder, fragen sie sich. Schließlich beschwert sich einer beim Vater. Der reagiert ein bisschen verlegen mit den Worten: Es tut mir leid. Wir kommen gerade von der Beerdigung der Mutter der beiden. Die Jungs können das Erlebte nicht richtig verarbeiten und mir fehlt die Kraft, sie zu bändigen.
In dem Moment, in dem die Mitreisenden von der tragischen Familiensituation hören, ändert sich ihre Einstellung schlagartig. Covey spricht davon, dass ein Paradigmenwechsel stattfindet. Wo vorher Ärger und Ablehnung die Gedanken dominieren, treten nun Empathie und Verständnis. Dabei haben sich die Fakten nicht geändert. Nur ihre Interpretation.
Vorsicht vor falschen Schlüssen
Denke ich diese Gedanken weiter, wird mir schnell klar, dass ich aufpassen muss, welche Schlüsse ich ziehe. Möglicherweise sind meine Schlussfolgerungen voreilig. Dazu ein kleines Beispiel aus der letzten Woche:
Der mürrische Blick meines Kollegen war ein deutlicher Hinweis auf seine schlechte Laune. Warum er verstimmt war, weiß ich nicht. Aber mein Gehirn hatte sofort Deutungsversuche parat. Vielleicht hatte er privaten Ärger gehabt oder ihm war ein Missgeschick passiert. Es kann auch sein, dass einfach nur die zweite Tasse Kaffee fehlte. Ich hätte das Verhalten des Kollegen aber auch als persönliche Ablehnung deuten können. – Das hätte zur Folge haben können, dass unsere Beziehung fortan belastet gewesen wäre.
Der Zwang zur Bedeutung und was daraus folgt
Ich sagte eingangs, dass unser Gehirn permanent damit beschäftigt ist, Wahrnehmungen Bedeutung zu zuweisen.
Daraus folgt, dass meine Gedanken höchst individuelle Interpretationen der Wirklichkeit sind.
Über die Zeit baue ich, ohne mir dessen bewusst zu sein, an einer Erzählung. Ich lege mir ein Narrativ zurecht. Ich gebe allem seinen Sinn. Vielleicht sollte ich besser sagen: Ich gebe allem meinen Sinn. Irgendwann halte ich diesen Sinn für die Wirklichkeit. Und das hat erhebliche Folgen.
Der Satz „Ich kann das nicht“ gibt in keiner Weise Auskunft über meine tatsächlichen Fähigkeiten. Er verweist lediglich auf eine Überzeugung, die ich mir über die Zeit angewöhnt habe und die sich ihrerseits aus Erlebnissen in meiner Vergangenheit speist.
Die Aussage „Ich kann nicht mit Geld umgehen“ wurzelt möglicherweise in negativen Erfahrungen. Unter keinen Umständen darf ich daraus schließen, dass ich auch künftig unfähig sein werde, Geld zu handhaben. Vielmehr zeigt die Selbstaussage, dass ich den Umgang mit Geld erlernen muss (und auch kann).
In gleicher Weise bedeutet mein schulisches Versagen in den Naturwissenschaften, Sprachfächern oder Kunst keineswegs, dass ich unfähig bin, Mathe zu verstehen, eine Fremdsprache zu erlernen oder künstlerisch tätig zu werden.
Welche Konsequenzen kann das für mich haben? Beispielsweise diese:
Wenn dir deine Realität nicht gefällt …
Wenn dir deine Realität nicht gefällt, dann unternimm etwas dagegen, sagt die Therapeutin Michelle Chalfant. Im Lichte des oben gesagten ergänze ich: Dann denke einfach neue Gedanken oder zwinge dich dazu, deine Wahrnehmungen neu zu interpretieren.
Ich finde das befreiend. Es bedeutet nämlich, dass ich kein Opfer bin. Im Gegenteil: Ich verfüge über die Deutungshoheit dessen, was mir zugestoßen ist. Ich kann es interpretieren und meine eigenen Rückschlüsse ziehen.
Wenn mir beispielsweise etwas Negatives passiert ist, kann ich Folgendes tun. Ich kann fragen:
- Was ist wirklich passiert? Was sind die harten Fakten?
- Habe ich das für mich geklärt, dann beobachte ich meine Reaktion. Vor allem meine automatischen Schlussfolgerungen zeigen mir, zu welchen Interpretationsmustern ich tendiere. Habe ich das erkannt, kann ich die Frage stellen:
- Was macht das möglich? Welche Gelegenheiten bieten sich mir infolge der neuen Umstände oder Entwicklungen? Diese Frage kann mir einen souveränen Umgang mit den Gegebenheiten eröffnen.
- Nun bin ich in der Lage, die Opferrolle zu verlassen und meine Zukunft selbst in die Hand zu nehmen.
Das klingt alles schlüssig und im Grunde genommen leicht. Allerdings gibt es ein Problem und das möchte ich zum Schluss ansprechen:
Zu guter Letzt
Es ist viel leichter, in erlernten Verhaltensmustern zu verharren. Auch wenn ich das vielleicht nicht zugeben will, die Opferrolle ist verführerisch. Denn sie ermöglicht mir eine passive Haltung. Ich kann die Schuld anderen Menschen oder Umständen zuschieben. Und das ist sehr bequem. Außerdem werde ich so die Verantwortung los, mein Leben in die eigene Hand zu nehmen.
Ich möchte Ihnen Mut machen. Sie sind nicht verpflichtet, alles zu glauben, was Ihnen Ihr Gehirn als Interpretation vorschlägt. Sie können das Narrativ, dass so sehr plausibel klingt, von dem Sie aber wissen, dass es unzutreffend ist und Ihnen nicht guttut, Sie können dieses Narrativ durch ein Neues ersetzen. Eine Erzählung, die selbstbewusst und kritisch mit der eigenen Wahrnehmung umgeht und infolgedessen zu besseren Schlussfolgerungen kommt.
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