Wenn der Staat schnüffelt
In China hat der Staat überall seine Augen. Ich habe mir sagen lassen, dass in Peking nichts den Überwachungskameras entgeht. Und um das Volk zu erziehen, werden dort täglich Fleißpunkte für belobigungswertes Verhalten vergeben und Sozialsünder bestraft, und zwar öffentlich auf Bildschirmen mit Gesicht, Name und Vergehen.
Am 14. Juni 2014 startete das System den Probebetrieb. Ab Ende 2020 sollte die Teilnahme verpflichtend für alle Bürger Pekings sein. Dann kam Corona.
In Wikipedia habe ich Folgendes nachgelesen: „Im Pilotprojekt in der Stadt Rongcheng starten Personen mit 1000 Punkten. Je nach Verhalten werden Punkte hinzuaddiert oder abgezogen. Zur Bewertung werden neben der Kreditwürdigkeit, der Zahlungsfähigkeit und dem Strafregister auch persönliches Verhalten und persönliche Beziehungen herangezogen.“
Das muss man sich einmal vorstellen: Als Fußgänger einmal bei Rot über die Ampel – und schon gibt es vom Staat Abzüge auf meinem Punktekonto.
Was sind die Folgen von negativem Rating? Im gleichen Wikipedia-Artikel heißt es: „Karrieren bei staatlichen und staatsnahen Organisationen können behindert werden. Möglich sind Reisebeschränkungen (keine Zug- oder Flugzeugtickets mehr), die Drosselung der Internetgeschwindigkeit, der Ausschluss von öffentlichen Ausschreibungen und höhere zu zahlende Steuern.“
Da ich eine blühende Fantasie habe, kommt mir sofort der Gedanke: Es wäre nicht auszudenken, wenn mir künftig der Kaffee am Automaten verweigert würde, bloß weil ich in der Firma faul war und den Aufzug anstatt der Treppen benutzt habe. Schon der Gedanke lässt mich erschaudern!
Überwachung auch in der Bibel?
Für Menschen, die an Gott glauben, ist der Gedanke, dass Gott mich sieht, durchaus vertraut. In Psalm 139, Vers 5 lese ich folgenden Vers: „Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir.“
Ich kann Gott nicht entrinnen, sagt David, der Dichter des Psalms. Egal wohin ich mich verkrieche und wie weit ich weglaufe, Gott ist gegenwärtig. Er umgibt mich und hält sogar seine Hand über mir.
Das klingt ziemlich beängstigend, finde ich. Genauso hat wohl auch David seinerzeit gedacht, als er diese Zeilen niederschrieb: Eingekesselt, wie bei einer Belagerung, gibt es kein Entrinnen für ihn. Jedenfalls nicht vor Gottes Augen. Die Überwachungskameras aus Peking lassen grüßen.
Aber man kann den Bibelvers auch anders sehen.
Von Anfang an dabei
Ein paar Verse später (13-15) lese ich davon, dass Gott mich schon gesehen hat, als ich noch nicht geboren war. Bis ins kleinste Detail war er bereits über mein Innerstes informiert, als ich noch kein Bewusstsein, geschweige denn Selbstbewusstsein, hatte.
Ich folgere daraus, dass ich Gott nicht egal bin. Im Gegenteil, ich bin ihm wichtig.
Also ist Gott doch kein Gott, der mich umringt, einkesselt und mir mit seiner Präsenz bedrohlich nahekommt? Brauche ich mich nicht zu fürchten vor seiner Gegenwart?
Wann Gottesbilder entstehen
Unsere Gottesbilder werden vielfach in früher Kindheit geformt. Wie wir Gott erleben, hat also auch damit zu tun, wie wir geprägt worden sind.
Ich bin in einem Elternhaus groß worden, in dem mein Bruder und ich Gott als liebenden und fürsorgenden Vater im Himmel kennengelernt haben. Deshalb begleitet mich seither die Gewissheit, dass Gott es gut mit mir meint.
Aber es gibt natürlich auch ganz andere Erfahrungen. Wer in konservativen frommen Kreisen aufgewachsen ist, wird vielleicht dieses Kinderlied noch kennen: „Pass auf, kleines Auge, was du siehst! Pass auf, kleines Auge, was du siehst! Denn der Vater in dem Himmel schaut herab auf dich. Drum pass auf, kleines Auge, was du siehst.“
Man kann trefflich über den pädagogischen Wert dieses Liedes diskutieren. Meine kleine Kinderseele hat keinen Schaden bei dem Gedanken genommen, dass Gott sieht, was ich mir anschaue, hört, was ich höre und bei mir ist, wenn ich irgendwo hingehe. Aber weiß sehr wohl um Menschen, denen es ganz anders ergangen ist. Bis heute kämpfen diese Leute damit, dass Gott in ihrer Vorstellung ein ferner, gestrenger und richtender Herrgott ist und kein liebender Vater im Himmel.
Meine Prägung
In der Psychologie spricht man von Narrativen (also Erzählungen), die uns in tiefer Weise geprägt haben. Diese Narrative sind wie eine Art Bilderrahmen, der alles und jedes in unserem Leben mit einem Bezugsrahmen versieht. Sie sind nicht der objektive Bericht dessen, was in unserer Kindheit geschehen ist, sondern unsere Erzählung dessen, was passiert ist, Auslassungen, Missverständnisse und Übertreibungen eingeschlossen.
Wie gut, dass das Evangelium diesen eingrenzenden Bezugsrahmen zu sprengen vermag. Wie gut, dass ich als erwachsener Mensch souveräne Entscheidungen treffen kann. Sie und ich, wir sind nicht dem ausgeliefert, was uns früher einmal angetan worden ist oder wie wir früher geprägt worden sind. Wir sind auch nicht dem ausgeliefert, was uns an begrenzenden und einengenden Gedanken zu schaffen macht. Ich kann ausbrechen und Sie können das auch, das Alte hinter uns lassen, sozusagen ein neues Kapitel aufschlagen.
Das alles ist möglich, weil Gott da ist und mich sieht. Ja, Gott umgibt mich. Ich kann seinen Blicken nicht entrinnen. Er ist mir näher als der ungeduldige Autofahrer hinter meiner Stoßstange. Aber, anders als auf der Autobahn, braucht mich das nicht weiter zu stressen. Gottes Blick auf mein Denken, Handeln und Sein ist ein zutiefst gütiger und wohlmeinender Blick. Das liegt an Jesus Christus, der ein umfassendes und herzlich erbarmendes JA zu mir, meiner Geschichte und all meinen Widersprüchlichkeiten und Verirrungen hat.
„Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir.“ Was dieser Psalm mir über Gott sagt, kann ich als Bedrohung empfinden, es ist aber in Wirklichkeit eine echte Chance und gleichzeitig ein wunderbares Versprechen: Ich brauche nicht allein durchs Leben zu gehen. „Ich bin bei dir, egal was kommt“, sagt Gott. „Vertraue mir!“
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