Sicher kennen Sie diesen Satz: „Neulich ist mir etwas passiert…“ Ich habe ihn schon oft gehört und selbst viele Male gebraucht. Er ist eine Art Einleitung zu einem Erlebnisbericht, in dem geschildert wird, was jemandem zugestoßen ist.
Was ich dann zu hören bekomme, lässt mich – je nach Geschichte – erstaunen oder aber es löst bei mir Gänsehaut aus. Während mein Gegenüber davon berichtet, was ihm zugestoßen ist, arbeitet meine Vorstellungskraft auf Hochtouren.
Worte können allerhand kommunizieren, und zwar beabsichtigte und unbeabsichtigte Inhalte.
Oft verraten meine Worte mehr über mich, als mir lieb ist. Das ist mir in diesem Zusammenhang einmal mehr deutlich geworden. Mir ist beispielsweise nicht bewusst gewesen, dass ein Satz wie „Neulich ist mir etwas passiert…“ einiges über meine Weltsicht offenbaren kann.
Wenn ich sage diesen Satz gebrauche, erkläre ich, dass mir etwas widerfahren ist. Nun ist das an sich nichts Verkehrtes. Wenn ich diese oder vergleichbare Redewendungen jedoch häufig gebrauche, weist das auf eine Haltung hin, deren ich mir bewusstwerden sollte.
Wem etwas widerfährt, angetan wird oder zustößt, der oder die begreift sich selbst als Objekt. Man könnte auch sagen, sie oder er nehmen sich als eine Art Zielscheibe wahr, die von „Pfeilen“ jedweder Art getroffen wird.
Diese Einstellung ist der Humus, auf dem das Pflänzchen der Opfermentalität keimt, gedeiht und schließlich unkontrolliert wuchern kann.
Die Frage, auf die ich eine Antwort finden sollte, lautet: Begreife ich mich als Objekt oder Subjekt?
Jim Dethmer, Diana Chapman und Kaley Warner Klemp haben in ihrem Buch „The 15 Commitments of Conscious Leadership“ dazu allerhand Interessantes zu sagen.
Sie unterscheiden die Haltung des „Objektseins“ von der des „Subjektseins“, indem sie ein simples Hilfsmittel zur Hand nehmen, eine horizontale Trennlinie auf einem leeren Blatt Papier.
Die Trennlinie
Dethmer und seine Ko-Autorinnen sagen: Würde man ein Blatt Papier zur Hilfe nehmen, könnte man die beiden grundverschiedenen Sichtweisen durch einen dicken und fetten horizontalen Strich sichtbar machen.
Unterhalb des Strichs ist die Wahrnehmung die, dass mir etwas zustößt. Mir widerfährt etwas.
Oberhalb der Linie ist meine Wahrnehmung eine andere. Was auch immer geschieht, es trifft mich nicht. Vielmehr ist die Wahrnehmung von einer Haltung der Neugierde und des Willens, das Geschehene zu verstehen und damit umzugehen. Es ist die aktive Haltung des Subjektseins, die des gestalten Wollens.
Als mir dieses Konzept zum ersten Mal begegnete, war ich skeptisch. Einfache Modelle, mit deren Hilfe die Welt erklärt wird, haben schon immer meinen Argwohn ausgelöst.
In diesem konkreten Falle hatte ich jedoch den Eindruck, dass Dethmer, Klemp und Chapman ein hilfreiches Werkzeug entwickelt haben.
Deshalb möchte ich noch einmal ein bisschen genauer hinschauen.
Unterm Strich
Wer in die Kategorie „unterm Strich“ fällt, dessen Wahrnehmung ist tendenziell passiv. Ihm oder ihr widerfahren Wind und Wetter, Staus und freie Autobahnen, Glücksmomente und Schicksalsschläge, Zufälle und Fügungen, Gutes und Schlechtes. Sie oder er erleben, wie ihnen etwas widerfährt.
Was immer geschieht, bei dieser Haltung geht es darum, sich angemessen zu verhalten. Im konkreten Fall in der einen oder anderen Weise zu reagieren.
Gleichzeitig begrenzt diese Weltsicht die eigenen Handlungsoptionen aufs Ausweichen, Verteidigen oder Aushalten dessen, was geschieht.
Oft wird unausgesprochen die Erwartung an andere geknüpft, Mitgefühl zu äußern und im Bedarfsfall zur Hilfe zu eilen.
Hinter dieser reaktiven Lebenseinstellung verbergen sich häufig eine Freund-Feind-Mentalität und eine Haltung des Mangels.
Oberhalb der Linie
Ganz anders hingegen ist die Wahrnehmung jener, die sich oberhalb der Trennlinie bewegen. Sie sind neugierig und gehen aktiv auf das zu, was geschieht. Sie versuchen, Geschehenes zu verstehen und suchen nach Wegen, es für sich nutzbar zu machen. Oft gelingt es, potenzielle Synergie-Effekte zu erkennen und zu nutzen.
Anders als bei der Opfermentalität, verstehen sich die Betreffenden nicht als Zielscheibe, sondern als frei handelndes Subjekt und verfügen deshalb über mehr Handlungsoptionen.
Oberhalb der Linie agieren heißt, Verantwortung zu übernehmen und die Situation zu gestalten.
Der Unterschied in der Praxis
Ich habe länger überlegt, welches Beispiel ich anführen sollte. Nach einigem Hin und Her habe ich mich für ein kontroverses entschieden:
Wir Deutsche haben über die zurückliegenden Jahrzehnte einen Reflex entwickelt, der auch in der Corona-Krise sein hässliches Gesicht gezeigt hat.
Bei herausfordernden und im Falle von Corona hochdynamischen und gefährlichen Entwicklungen wird schnell staatliches Eingreifen gefordert. Gerade so, als ob mit der Pandemie mir etwas widerfährt, wo mir von außen geholfen werden muss, anstatt eigenverantwortlich mit der Situation zu umgehen.
Wenn das Eingreifen des Staates dann nicht so effizient erfolgt (siehe die vielen Beispiele für die Fehler von überforderten öffentlichen Stellen), wird kritisiert und niedergemacht.
Ist es nicht erstaunlich, wer alles binnen kürzester Zeit nach staatlicher Hilfe gerufen hat? Ich sage es einmal zugespitzt: Anstatt mit der Situation umzugehen, zu gestalten, haben Unternehmer sich als Unterlasser profiliert. Und Politiker haben sich dazu verleiten lassen, Programme aufzulegen und Schulden zu fabrizieren, unter denen unsere Kinder noch zu knapsen haben werden.
Bitte nicht missverstehen: Ich bin sehr für Hilfe, wo diese sinnvoll und zielführend ist. Aber sollte die Maxime nicht sein, dass weitestgehend eigenverantwortliches Handeln ermöglicht und gefördert wird?
Und wie ist das im persönlichen Kontext?
Es ist leicht, sich über das Verhalten anderer zu echauffieren. Das weiß ich wohl. Auch ist mir klar, dass es sehr viel mehr Mut kostet, in den Spiegel zu schauen, die eigene Haltung zu betrachten und ggf. mit den erkannten Defiziten umzugehen.
Deshalb möchte ich Ihnen die Frage stellen, die ich mir selbst gestellt habe: Wie agiere ich? Verhalte ich mich als „Bürger aus dem Land des Mangels“, der Hilfe erwartet, weil ihm unverschuldet etwas zugestoßen ist? Bin ich eher von einer wie auch immer gearteten Opfermentalität geprägt? Sind die anderen „schuld“? Oder habe ich den Willen und die Kraft, die aktuell schwierige Lage zu meinem Vorteil gestalten?
Zum guten Schluss
Ich möchte Ihnen noch zwei Artikel empfehlen, die ich im März verfasst habe: 1. Soll ich mich beraten lassen? 2. Wohin geht meine Reise?
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