Leistung einmal anders als sonst bewerten

Wer kennt sie nicht, die Prüfungsangst? Für viele gehört sie zu den unangenehmsten Erinnerungen an Schule und Studium. 

Wehe, wenn man den falschen Stoff gelernt oder vor lauter Aufregung die Prüfungsfrage nicht richtig verstanden hatte. Dann hagelte es schlechte Zensuren. 

Jahresmitarbeitergespräche (was für ein Wortungetüm!) und Leistungsbeurteilungen gehören, wie Klassenarbeiten in der Schule, definitiv nicht zu den bevorzugten Veranstaltungen des beruflichen Lebens. Das jährliche „Vortanzen“ ist vielen ein Graus. Vor allem dann, wenn eine Evaluierung damit verbunden ist, deren Ergebnis wirtschaftliche Auswirkungen für einen hat. 

Leistung steigern ohne Prüfung?

Wie lässt sich Leistung nachhaltig steigern – ohne den Stress einer Überprüfung? Schließlich ist niemand an einer punktuellen Spitzenleistung interessiert, sondern an einer dauerhaft positiven Entwicklung. 

Mir imponiert ein Ansatz, den der britische Dirigent Benjamin Zander gemeinsam mit seiner Ehefrau, der Familientherapeutin Rosamund Stone Zander, entwickelt hat.

Während seiner Lehrtätigkeit am New England Conservatory beobachtete Ben Zander, wie die Furcht vor der Benotung einen Studenten nach dem anderen ausbremste. Aus Angst zu versagen, scheuten sie sich, Risiken einzugehen. Das wiederum untergrub die wahre Entwicklung von Meisterschaft. 

Der französische Spitzenmanager Hubert Joly beschreibt den innovativen Ansatz von Ben und Rosamund Zander in seinem Buch „The Heart of Business“ (Hubert Joly, Seite 181, meine Übersetzung)

Der andere Weg

Zu Beginn des neuen Semesters teilte er seinen Studenten mit, dass jeder eine „Eins“ am Ende des Kurses erhalten würde. 

„Es gab eine Bedingung: Innerhalb von zwei Wochen musste jeder Student einen Brief schreiben, der auf den folgenden Mai – das Ende des Kurses – datiert war und in dem er detailliert erklärte, was in diesen Monaten geschehen war, um diese außergewöhnliche Note zu rechtfertigen. 

Die Studenten mussten sich selbst in die Zukunft projizieren und auf ihre Leistungen und ihr Lernen zurückblicken und die Person beschreiben, die sie geworden waren. 

Befreit vom Urteil, konnten sich seine Schüler eine Welt der Möglichkeiten vorstellen. Die Praxis, eine Eins im Voraus zu geben, setzte ihre Energie und ihren Antrieb frei. Sie stellten sich vor, dass sie alles durchbrechen würden, was ihnen im Weg stand – und sie taten es. Eine „Eins“ zu geben bedeutet nicht, Standards, Kompetenz und Leistung zu ignorieren, sondern vielmehr Studenten und Lehrer – oder Manager und Angestellte – auf ein gemeinsames Ziel auszurichten: das Streben nach Meisterschaft.“1

Soweit das übersetzte Zitat aus einem bemerkenswerten Buch über Führung. Geschrieben hat es der Franzose und ehemalige Best-Buy-CEO, Hubert Joly. Leider ist das Buch noch nicht in Deutsch erhältlich. Sollten Sie Interesse haben und mit englischsprachiger Fachliteratur gut zurechtkommen, können Sie hier dem Link folgen.

Was wäre, wenn…? 

Mich hat dieser Ansatz begeistert. Er ersetzte Angst durch Entwicklungsperspektive, ohne dabei auf die persönliche Verantwortung und Leistungskomponente zu verzichten. Ich kenne das Ziel und bin damit einverstanden, weil es von mir selbst gesteckt und von meinem Vorgesetzten bestätigt worden ist. Und ich habe eine Vorstellung davon, wie ich es erreichen könnte.

Wie wäre das, habe ich mich gefragt, wenn es gelänge, Ben und Rosamund Zanders Idee auf den betrieblichen Alltag zu übertragen? Die Eigenverantwortung der Mitarbeitenden würde gestärkt. Sie würden einen Anreiz erhalten, sich weiterzuentwickeln. Wie unter den Studenten von Ben Zander würde das Potenzial entfesseln. Davon bin ich überzeugt.  Letztlich wäre allen gedient, denn auch das Unternehmen würde von dieser Entwicklung profitieren. 

Apropos…

Weitere Artikel rund um das Thema Führung finden sie hier. Texte zum Themenfeld persönliche Entwicklung können Sie hier lesen.


1 Joly, Hubert, Autor | Lambert, Caroline. The Heart of Business, Harvard Business Press, Boston: 2021

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