Kreative Prozesse verstehen

Podcast: Kreative Prozesse verstehen

Neben Produktivität und der Fähigkeit, Menschen zu führen, gehört ein vertieftes Verständnis von Kreativität und kreativen Prozessen in den Werkzeugkasten einer Führungsperson. 

Jeff und Julie Crabtree haben zu diesem Thema geforscht und hilfreiche Erkenntnisse in dem Buch »Living With A Creative Mind« aufgeschrieben. Leider ist das außergewöhnliche Buch nur noch antiquarisch oder direkt bei den Autoren erhältlich. Nachfolgend beziehe ich mich auf ihr Werk. 

Kreativität ist ein Prozess, der sich grob in vier Abschnitte gliedern lässt: Da ist zunächst die Wahrnehmung. Ihr folgt die Phase der Entdeckung und Produktion, schließlich die des Betrachtens. Es spielt keine Rolle, ob Sie komponieren, töpfern, einen Gegenstand designen oder mit chemischen Substanzen hantieren, immer sind diese vier Schritte wesentliche Elemente.

Phase 1 – Wahrnehmung. 

Sie beobachten oder hören etwas. Ein Vorgang oder eine Sache weckt Ihr Interesse. Sie merken auf. Zwei Beispiele:  

  1. Im Jahr 1725 inspirierte der Anblick von Schlittschuhfahrern in der Lagune von Venedig den Komponisten Antonio Vivaldi. Im Schlusssatz des Winterkonzerts der „Vier Jahreszeiten[1]“, dem Allegro, zeichnet Vivaldi das Schlittschuhlaufen instrumental nach.  
  2. Ein weiteres Beispiel ist die Erfindung des Autos der Zukunft. Unter dem Eindruck der Bionik, hier besonders der strömungsdynamischen Effizienz von Delfinen, entsteht unter der Leitung von Dr. Peter Maskus die bahnbrechende Erfindung des Acabions

Ob Schlittschuhlaufen oder Delfine, Sie nehmen etwas wahr und das packt Sie. Es weckt Ihre Fantasie. Eins kommt zum anderen. Ein Prozess gerät in Gang, an dessen Ende etwas Neues stehen kann. 

Leider kann Wahrnehmung behindert werden. Wenn die Sinne eingeschränkt oder unsere Stimmung düster sind. Wir haben Angst oder sind erschöpft. Keine Zeit haben oder gelangweilt sein, der wachsende Druck zur Konformität – das alles kann dazu führen, dass unsere Wahrnehmung behindert wird.

Umgekehrt kann das gute Gefühl, lebendig zu sein, Wahrnehmung fördern. Die Sinne sind wach, das Leben fühlt sich gut an. Wir erleben Ermutigung, dürfen wir selbst – und damit anders – sein, sind gesund und verfügen über ausreichend Raum und Zeit. 

Phase 2 – Entdeckung. 

Sie befinden sich auf Entdeckungsreise, interpretieren das, was Sie zuvor wahrgenommen haben. Langsam formen sich Melodien in Ihrem Kopf, Akkorde beginnen sich zusammenzufügen. Farben und Kontraste lassen erste Formen entstehen. Auf der Suche nach dem neuen Geschmackserlebnis experimentieren Sie mit Gewürzmischungen. Der Autor in Ihnen »träumt« seine Geschichte.  Ihr inneres Auge sieht schemenhaft, das innere Ohr hört bereits etwas, aber Sie sind noch nicht in der Lage, in Worte zu kleiden, was in Ihnen arbeitet. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Entdeckerphase sehr intensiv und zugleich frustrierend ist. Zudem lässt sie sich nicht abkürzen. Es ist wie mit einem Hühnerei kurz vor dem Schlüpfen. Wer zu früh das Küken von dessen Schale befreien will, läuft Gefahr, es umzubringen. 

Der Zwang zur Konformität, Zeitmangel, Angst, körperliche oder seelische Erschöpfung können diese wichtige Phase der Kreativität hindern, wenn nicht sogar auslöschen. Achten Sie deshalb auf Ihre physische und psychische Gesundheit. Ausgestattet mit ausreichend Zeit und Raum und der Freiheit Sie selbst zu sein, legen Sie wichtige Grundlagen für einen gelingenden kreativen Prozess. 

Phase 3 – Produktion. 

In dieser Phase fokussiert sich Ihr Wirken hin auf ein Ziel: Das Werk muss entstehen. Dies ist die Geburtsphase. Nun gibt es kein Zurück. In der Produktionsphase sind Sie in der Lage, Unglaubliches zu leisten. Von Michelangelo wird berichtet, dass er sich kaum Ruhe und Nahrung gönnte, als er die Skulptur David schuf. Ähnlich konzentriert arbeitete er an der Gestaltung der Sixtinischen Kapelle.  

Zeitmangel und fehlende fachliche Kompetenz können die Produktionsphase ernsthaft beeinträchtigen. Deshalb ist es beispielsweise wichtig, im Vorfeld durch Übung die nötigen Fertigkeiten zu erwerben. 

Phase 4 – Betrachten. 

Das Werk ist gestaltet, es ist vollbracht, das Menü zubereitet, das Abendkleid geschneidert, die neue Duftnote kreiert. Nun kommt die Zeit des Abstandnehmens, Betrachtens und Loslassens. Im alttestamentlichen Schöpfungsbericht ist dies der siebte Tag. Nun wird (hoffentlich) das Prädikat »sehr gut« verliehen. Das Gefühl der Vollendung, der Dankbarkeit und Besinnung schafft Raum für Neues, das nächste kreative Projekt. 

Ich bin überzeugt davon, dass die Beachtung der oben aufgeführten vier Phasen in Ihnen die Voraussetzungen für jene Kreativität schafft, die von Ihnen im Führungsalltag gefordert wird. 


[1] Hier in einer Einspielung mit Alexandra Conunova und dem Orchestre International de Genève ab Minute 32:25.

Bildquellen

  • Bild-ID 255293044: Baimieng / Shutterstock

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