Über viel Erfahrung zu verfügen, ist eine gute Sache. Meistens. Mit zunehmendem Alter sammelt man Erfahrungen. Die können einem helfen, gute Entscheidungen zu treffen, vielleicht sogar vor Fehlern bewahren.
Mit Vollgas aus der Kurve und hinein ins Feld
Ich werde nie vergessen, wie ich als Beifahrer eine Erfahrung gemacht habe, die meinen Fahrstil für immer beeinflusst hat. Mein Freund war – sagen wir es einmal so – recht mutig auf der Landstraße unterwegs gewesen, bis wir beide existenzielle Erfahrungen mit dem Gesetz der Massenträgheit machten. Anstatt mit quietschenden Reifen cool durch die Kurve zu driften, brausten wir mit einem Mal geradeaus. Die eine Tonne motorisierter Stahl, in der wir saßen, entwickelte ein Eigenleben. Und wir fanden uns von jetzt auf gleich im Feld wieder.
Ich habe bei dieser Gelegenheit noch eine zweite Erfahrung gemacht: Wie segensreich ein Sicherheitsgurt sein kann!
Aber – und das ist die Kehrseite der Medaille – Erfahrungen können einen genauso in die Irre führen.
Sich ausschließlich auf Erfahrungswerte zu berufen, ist ein zweischneidiges Schwert. Und das gilt in besonderer Weise für Menschen in Führungsverantwortung.
Ein Experiment
Ein Beispiel[1]: Die unten aufgeführte Symbolreihe deuten Sie vermutlich als die drei Großbuchstaben A, B und C. Ihre Erfahrung legt diesen Schluss nahe.
Aber stimmt diese Interpretation? Die Buchstaben A und C scheinen eindeutig. Aber was ist mit dem B? Dieser Buchstabe wirkt ein bisschen anders als die anderen beiden, geht aber noch als B durch.
In Wahrheit hängt unsere Wahrnehmung der drei Symbole als Buchstabenreihenfolge A, B und C von dem Zusammenhang ab, in dem wir die Symbolkette lesen.
Um das zu illustrieren, nehme ich das B und stelle es in einen anderen Kontext. Jetzt wird aus dem Buchstaben B die Zahl 13.
Ist das B ein B oder doch eine 13? Die Form ist gleich. Wer hat also recht? Jener, der die Symbolreihe als A, B und C gedeutet hat oder jene, die 12, 13 und 14 gelesen hat?
Die Antwort lautet: Beide haben recht.
Ich habe dieses Beispiel gebraucht, weil ich auf eine Gefahr aufmerksam machen möchte, der vor allem ältere Führungskräfte ausgesetzt sind.
Ungünstige Geisteshaltung
Les McKeown beschreibt diese Gefahr in seinem Buch Predictable Success als eine ungünstige Geisteshaltung, die interessanterweise ausgerechnet in erfolgreichen Firmen gang und gäbe ist.
In diesen Unternehmen weiß man, warum man in der Vergangenheit erfolgreich gewesen ist. Man verfügt über Erfahrung und lässt sich dazu verleiten, eben diese Erfahrung unreflektiert zum Maßstab künftigen Handelns zu nehmen. Meistens geht das gut. Aber irgendwann gibt’s Probleme. Warum? Weil sich über die Zeit unmerklich maßgebliche Faktoren verändert haben, die von erfahrungsgeleitetem Denken nicht berücksichtigt werden: Der Markt oder die Technik haben sich beispielsweise weiterentwickelt.
Die stark auf Erfahrung ausgerichtete Geisteshaltung hat einen weiteren ungünstigen Nebeneffekt: Weil ihr Blick nach hinten gerichtet ist, nimmt sie kreativen Personen den Freiraum. Die Folge ist, dass die Kreativen und Visionäre sich früher oder später ein neues Wirkungsfeld suchen. Und das ist nach meinem Dafürhalten schlichtweg eine Katastrophe, denn damit verliert das Unternehmen die Fähigkeit zur Innovation.
Damit wir uns nicht missverstehen: Ich will hier auf keinen Fall den Wert der Erfahrung von profiliertem Führungspersonal kleinreden. Es ist auch nicht mein Ansinnen, bewährte Strukturen und Abläufe zu hinterfragen. Nein! Vielmehr geht es mir darum, vor zu sorglosem Umgang mit eigenen Erfahrungen zu warnen.
Eine Frage zum Nachdenken
Wann haben Sie das letzte Mal eine „Bauchentscheidung“ aufgrund Ihrer Erfahrung getroffen, die Sie später bereut haben?
[1] Susan David: Emotional Agility, Avery, an imprint of Penguin Random House, New York: 2016
Bildquellen
- Buchstabenabfolge: Susan David, Emotional Agility, Kindle Pos. 1257
- Zahlenfolge: Susan David, Emotional Agility, Kindle Pos. 1257
- Bild-ID 1202069653: Black Salmon / Shutterstock