Du bist viel weniger, als du sein könntest

Podcast: Du bist viel weniger, als du sein könntest

Vergangene Woche ist mir ein Satz untergekommen, der es in sich hat. Ausgesprochen hat ihn der kanadische Psychologe Jordan Peterson. In einem Interview erklärte er: 

„Ich sage den Leuten nicht: »Du bist in Ordnung, so wie du bist.« Das ist nicht die richtige Botschaft. Die richtige Botschaft lautet: »Du bist viel weniger, als du sein könntest«.“ 

So, wie ich Jordan Peterson verstehe, geht es um mehr als die Stufen der Karriereleiter, die ich erklommen habe oder die materiellen Güter, die ich anhäufen konnte. Letzten Endes steht die Frage im Raum, ob der innere Kerl mit dem äußeren mitgewachsen ist. 

Wie geht es Ihnen mit dieser Aussage? Kennen Sie die heimliche Sorge, in Wahrheit weniger zu sein, als Sie sein könnten? Leben Sie unter Ihrem Potenzial? 

Beim Nachdenken ist mir aufgefallen, dass ich innerlich wachsende Menschen attraktiv finde. 

Ich spüre bei ihnen etwas, zu dem ich mich hingezogen fühle. Solche Menschen brauchen keine Statussymbole. Sie beeindrucken durch die Größe ihrer Persönlichkeit und wofür sie stehen.

Ich habe mich gefragt: Was haben diese Leute gemeistert? Was macht sie besonders? Drei Eigenschaften möchte ich exemplarisch nennen: 

  1. Sie wissen, woher sie kommen und haben sich mit ihrer Vergangenheit versöhnt. 
  2. Sie leben in der Gegenwart und verhalten sich zugewandt.
  3. Die Warum-Frage haben sie für sich geklärt.

Lassen Sie mich kurz auf die genannten Punkte eingehen.

1. Versöhnt mit der eigenen Geschichte

Ein Ja zur eigenen Herkunft zu haben, ist m. E. eine Grundvoraussetzung, um innerlich nachhaltig wachsen zu können.

Das mag selbstverständlich klingen, ist es aber nicht. Manch einer empfindet seine Herkunft als Last. Ein kaputtes Elternhaus, Brüche in der eigenen Biografie, schlechte Entscheidungen, unreifes Verhalten – es gibt viel, was ich anführen könnte. 

Die Frage ist: Bin ich dazu bereit, meine Vergangenheit mit all dem Guten, Schlechten und auch dem Hässlichen anzunehmen? Dazu zu stehen? Sie zu umarmen und als Teil meiner Lebensgeschichte bewusst und sorgfältig zu integrieren?

Der Gedanke, mit der eigenen Geschichte versöhnt zu sein, hat mich an etwas erinnert, das nach meinem Dafürhalten gut passt:  

Kennen Sie die Kintsugi-Kunst? Es ist eine uralte japanische Reparaturtechnik. Der Begriff heißt wörtlich „mit Gold zusammengefügt“ und feiert das Unperfekte. Dabei werden die Scherben einer zerbrochenen Porzellan- oder Keramikschale mit einem Kleber wieder zusammengefügt und vergoldet. So kann mithilfe der Kintsugi-Kunst aus scheinbar nutzlosen Bruchstücken etwas entstehen, das sehr viel wertvoller ist als das ursprüngliche Ausgangsmaterial. Mehr noch. In der Hand der Kintsugi-Meister entstehen Unikate.

Übrigens, die vergoldeten Klebestellen werden als „keshiki“ bezeichnet, wörtlich übersetzt: Landschaften, weil sie Flüssen gleich durch die Bruchlandschaften mäandern. 

Aber zurück zur ursprünglichen Frage: Bin ich weniger als ich sein könnte? Kintsugi zeigt mir eindrücklich, dass die Brüche und Scherben meiner Biografie zu mir gehören, aber kein Hinderungsgrund für mein Wachstum sind. Im Gegenteil: Sie tragen besonderes Potenzial in sich. 

2. In der Gegenwart leben. Präsent sein.

Neulich sah ich eine Gruppe Teenager. Es müssen fünf oder sechs junge Kerle gewesen sein. Sie liefen den Gehweg entlang. Ausnahmslos jeder war mit dem eigenen Handy beschäftigt.– Diese Jugendlichen waren zwar körperlich da, aber nicht im wirklichen Sinne des Wortes anwesend. 

Ich will an dieser Stelle niemanden verurteilen, denn ich erliege selbst viel zu oft der Versuchung, mich in meine kleine elektronische Blase zurückzuziehen. 

Es ist doch so, dass im Grunde die Beschäftigung mit dem Handy für etwas steht, das viel größer ist: der Rückzug aus der Gegenwart. Mein Handy vermittelt kleine Belohnungsimpulse, die mein Gehirn nur allzu gern entgegennimmt. Ehe ich mich versehe, werde ich abhängig. Mein elektronischer Helfer entwickelt sich mit der Zeit zum Gebieter, der unerbittlich meine Aufmerksamkeit einfordert und damit mich in die künstliche Welt der sozialen Medien zieht. 

Als Persönlichkeit kann ich aber nur wachsen und mich entfalten, wenn ich bereit bin, mich dem tatsächlichen Leben zu stellen. Das ist mitunter anstrengend, um nicht zu sagen sehr herausfordernd.

In der Gegenwart leben, bedeutet mehr als den Umgang mit dem Handy zu meistern. Ich muss bereit sein, die Vergangenheit vergangen sein zu lassen und im Jetzt zu Hause zu sein. Das wiederum schließt so manche Ungerechtigkeit ein, die mir zugefügt worden ist. 

Denken Sie an eine reparierte Kintsugi-Porzellanschale. Die gehört ins Regal. Dort besteht ihre Aufgabe darin, mich zu erfreuen und gleichzeitig daran zu erinnern, dass sie das Produkt eines Unglücks ist. Noch einmal: Eine Kintsugi-Schale ist ein beredtes Zeugnis dessen, was passiert und glücklicherweise wieder gut geworden ist.

3. Die geklärte Warum-Frage

Mehr werden als ich gegenwärtig bin, schließt ein, dass ich eine ehrliche Antwort auf mein derzeitiges Warum finde und es ggf. durch ein besseres ersetze.

Dabei können einige Fragen hilfreich sein: 

Wieso tue oder lasse ich etwas? Was sind meine wahren Beweggründe? Warum engagiere ich mich? Versuche ich möglicherweise die innere Leere zu füllen, die ich spüre? Verbirgt sich hinter meiner Anstrengung etwa der Wunsch nach Anerkennung durch maßgebliche Personen in meinem privaten oder beruflichen Umfeld? Muss ich mir etwas beweisen? 

Den wahren Motiven auf den Grund zu gehen, erfordert Mut und Beharrlichkeit. Aber wenn es mir gelingt, sie aufzudecken, dann schaffe ich die Voraussetzungen dafür, dass ich als Persönlichkeit wachsen kann. Denn dann kann ich den Drang ablegen, den Erwartungen meiner Eltern oder irgendeiner anderen Person gerecht werden zu wollen. Ich kann das alte Warum durch ein neues, besseres ersetzen.

Warum mir das wichtig ist

Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht. Ich möchte mein Potenzial entdecken und entwickeln. Der Gedanke, später einmal resigniert feststellen zu müssen, dass ich unter meinen Möglichkeiten gelebt habe, wäre mir äußerst unangenehm. Dieses Eingeständnis möchte ich unbedingt vermeiden. 

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