Die Schwierigkeit des anderen Blickwinkels

Meinem Kollegen Andreas kann ich stundenlang zuhören. Er ist ein begeisterter Kameramann, der seine Berufung liebt und in vollen Zügen lebt. Egal ob Kameragehäuse, Objektive oder diverses Zubehör für Foto- und Videokameras, Andreas kennt sich aus und hat sich eine fundierte Meinung gebildet. Auf sein Urteil kann ich mich verlassen. 

 Als ich neulich über Führung nachdachte, musste ich an ihn denken. 

Viele Faktoren, eine Sicht

Jeder von uns betrachtet die Welt aus seiner eigenen Perspektive. Dieser Blickwinkel wird von vielen Faktoren beeinflusst. 

Meine Herkunft, familiäre Prägung, Gabenprofil, Bildung und Lebenserfahrungen spielen ebenso eine Rolle wie beispielsweise Körpergröße oder Geschlecht. Mit 1,60 m sieht die Welt anders aus als aus 1,90 m Höhe. 

Warum reite ich auf diesen Selbstverständlichkeiten herum? 

Weil ich meistens im „Autopilot-Modus“ unterwegs bin und genau der zum Problem werden kann.

Das Problem: Der Auto-Pilot

Um noch einmal meinen Kollegen Andreas, den Kameramann, zu bemühen. Er würde mir erklären, dass ein Bild oder eine Szene von Faktoren wie Objektiv-Brennweite, Größe des Bild-Sensors, Lichteinfall und dem Motiv maßgeblich bestimmt werden. 

Es gibt beispielsweise gute (physikalische) Gründe, warum Schnappschüsse mit dem Handy nahezu immer gestochen scharf sind. Das Fokussieren mit einer Kleinbildkamera hingegen kann deutlich schwieriger sein.

Aber es spielen andere Faktoren eine Rolle: die besagte Körpergröße. Andreas und ich sind deutlich über 1,85 m groß. Für bestimmte Blickwinkel müssen wir uns bewusst bücken. 

Lassen Sie mich das ein wenig ausführen: 

Vielleicht ist Ihnen bei der Betrachtung von Bildern aufgefallen, dass die abgelichteten Personen darauf unvorteilhaft aussahen. Das hat physikalische Gründe. 

Das Weitwinkelbild einer Person wirkt aus unserer Höhe fotografiert, immer unvorteilhaft: großer Kopf, kleine Beine. Das liegt an unserer Körpergröße und an der perspektivischen Verzerrung des Objektivs. 

Fotografiert jemand deutlich Kleineres dasselbe Motiv, wirkt das Bild auf andere Weise unvorteilhaft: Das Verhältnis von Rumpf (mächtig) zu Kopf und Beinen (jeweils verhältnismäßig klein) ist unnatürlich. 

In beiden Fällen hat das gleiche Weitwinkelobjektiv zu einer sogenannten tonnenförmigen Verzeichnung mit unterschiedlichen Resultaten geführt. Wen das Thema näher interessiert: Hier ist eine gute Beschreibung des Phänomens

Auf die Organisation angewendet…

Übertragen auf die Situation in einem Team oder Betrieb heißt das: Es gibt verschiedene Blickwinkel auf ein und dieselbe Wirklichkeit. Jede ist valide. Jede hat ihre Stärken, aber auch Grenzen und Nachteile. 

Deshalb muss ich mir bewusst machen, dass meine Sicht – also die Perspektive, mit der ich durchs Leben ziehe – nicht die einzig Richtige ist. Es gibt weitere Blickwinkel. Wenn ich diese in meine Betrachtungen einbeziehe, gewinne ich eine zusätzliche Sichtweise und damit ein umfassenderes Bild als vorher.

Sie ahnen, worauf ich hinauswill: Vielfalt. Mir geht es um die Reichhaltigkeit der Perspektiven, die helfen können, eine präzisere Wahrnehmung zu haben. 

Um in der Welt meines Kollegen Andreas zu bleiben: Der eine betrachtet einen Sachverhalt wie durch ein virtuelles Weitwinkelobjektiv, während der Nächste durch ein imaginäres Teleobjektiv schaut. Beide schauen zwar auf das gleiche Motiv, sehen aber sehr Unterschiedliches. Der eine sieht – einem Teleobjektiv gleich – fokussiert und trennscharf das Wesentliche, sonst jedoch nichts. Der andere betrachtet – wie bei einem Weitwinkel – zusätzlich den Kontext. Das kann Vor- und Nachteile haben: Vielleicht erkennt er wichtige Zusammenhänge, möglicherweise wird er aber durch die viele zusätzliche Informationen verwirrt oder abgelenkt. 

Viele Studien zeigen, dass breit aufgestellte Teams eine bessere Wirkung erzielen. Das betrifft nicht nur das Verhältnis der Geschlechter zueinander, sondern auch andere Faktoren wie Alter, Temperament, Herkunft und Bildung. 

Ein Beispiel

Nein, ich will jetzt nicht auf Frauen und Männer in Leitungspositionen eingehen. Das haben andere bereits getan. Ich möchte stattdessen beispielhaft auf drei Rollen zu sprechen kommen, die in Organisationen häufig Konflikte untereinander austragen. Und das, obwohl alle drei für den Unternehmenserfolg zwingend notwendig sind. 

Da ist die Rolle des Propheten (des Sehers oder Visionärs), die des Machers (des Produzenten, der etwas bewegt) und des Verwalters (der ordnet und den Überblick behält). 

Start Ups tendieren dazu, mehr Visionäre und Produzenten zu beschäftigen. Dementsprechend leiden sie unter Strukturmängeln. Das Ergebnis sind Effizienz-Defizite. 

Alte Unternehmen hingegen beschäftigen überwiegend Produzenten und Verwalter. Die Visionäre haben sich längst verabschiedet oder sie sind feierlich entlassen worden, weil die Unruhe störte, die sie ins Unternehmen brachten. – Bei der Gelegenheit sei angemerkt, dass eine Faustregel gilt: Je älter die Organisation, desto mehr Verwalter und weniger Produzenten. 

Wie lässt sich Vielfalt leben?

Wie könnte Vielfalt in solchen Kontexten gelebt werden? Ich glaube, dass ein Umdenken am Anfang stehen müsste.

Die Herausforderung des Visionärs würde darin bestehen, den Wert des Verwalters zu erkennen und wertzuschätzen. In gleicher Weise müssen Macher und Verwalter verstehen, dass die permanente Unruhe des Visionärs eine wunderbare Chance bietet, das eigene Unternehmen nach vorne zu bringen. 

Merke: Was heute gang und gäbe ist, war vor nicht allzu langer Zeit ein verwegener Gedanke. Das gilt für Autos, Mikrowellen, Waschmaschinen und Homeoffice genauso wie für tausend andere Annehmlichkeiten des täglichen Lebens. Irgendwer musste die Idee dafür haben und den „Riecher“, dass es dafür einen Markt geben könnte.

Aber Vorsicht: Über Vielfalt reden ist einfach. Sie zu leben, sehr anstrengend. Sie verlangt von mir, dass ich meinen „Autopiloten“ abschalte und mich bewusst mit einer mir fremden Perspektive befasse; mich in unbekanntes Territorium vorwage.

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