Kurz & knapp: Lange Stunden im Büro gehören für viele wie selbstverständlich dazu. Haben Sie sich schon einmal gefragt, warum Sie das tun? Rechnet sich die investierte Zeit? Und wenn nicht, warum tun Sie es trotzdem? Wem müssen Sie etwas beweisen? Dem Chef? Sich selbst?
Viele Gründe für ein verbreitetes Problem
Zur Leistungsgesellschaft gehört der Kult der vielen Stunden wie das Amen in die Kirche. Führungskräfte und Kopfarbeiter (heute spricht man auch gerne von Wissensarbeitern) verbringen deutlich mehr Zeit im Büro, als mit ihnen vertraglich vereinbart worden ist.
Dafür gibt es eine Vielzahl von Gründen. Hier einige Beispiele:
- Mein Einsatz wird stillschweigend erwartet.
- Die Arbeit ist komplex und erfordert längere, ungestörte Arbeitsphasen. Das wiederum ist nur in den frühen Morgenstunden und am späten Nachmittag möglich.
- Mein Ehrgeiz hat mich dazu verführt, mehr anzupacken, als ich schaffen kann.
- Die Arbeit macht mir Spaß.
- Ich bin schlecht organisiert oder habe falsche Prioritäten.
- Ich sehe nicht, wie ich dem Hamsterrad entkommen kann.
Der Kult der vielen Stunden wird unterstützt von wenigen produktiven Ausnahmeerscheinungen, die mit Energie und Verbissenheit Großartiges in endlosen Nachtstunden leisten – und der allgemeinen Legendenbildung.
Mir stellen sich zwei Fragen:
1. Kann ein Mensch dauerhaft hohem Leistungsdruck standhalten?
2. Ist das viele Arbeiten tatsächlich so produktiv, wie es den Eindruck macht?
Michael Hyatt und Megan Hyatt Miller haben vor einigen Tagen ein neues Buch zum Thema herausgebracht. Es trägt den vielversprechenden Titel „Win at Work and Succeed at Life“ und ist bei Baker Books erschienen. Eine deutsche Übersetzung liegt noch nicht vor.
Vater und Tochter leiten eines der erfolgreichsten Start-ups der zurückliegenden Jahre in Amerika. Beide kennen sie den Kult der vielen Stunden aus eigener Erfahrung, bieten Hilfestellungen an.
Aber zurück zur Frage:
Kann ein Mensch dauerhaft hohem Leistungsdruck standhalten?
Nein, er kann es nicht. Das ist die schlichte Erkenntnis von vielen Forschungsarbeiten zum Thema. Kurze gelegentliche Sprints sind kein Problem. Aber dauerhaft, also über Monate oder Jahre? Nein, es ist sogar so, dass Menschen über die Zeit psychischen und physischen Schaden nehmen. Am 17. Mai 2021 titelt das ZDF: UN-Studie – 745.000 Todesfälle durch Überarbeitung. Die klare Botschaft: „Das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen steigt demnach ab 55 Stunden Wochenarbeitszeit stark an.“[1]
Wir brauchen Erholung in Form von Schlaf, spielerischer Ablenkung, Sozialkontakten, Bewegung und gesunder Ernährung. Nur die gute Mischung garantiert dauerhaft Leistungsfähigkeit.
Hyatt schreibt: „Das Leben ist multidimensional. Erfolg kann nur dann aufrechterhalten werden, wenn die meisten Lebensbereiche gemeinsam gedeihen.“[2]
Das führt mich zu meiner zweiten Frage:
Sind die langen Arbeitsstunden tatsächlich so produktiv, wie man glaubt?
Zunächst einmal vermitteln permanent lange Arbeitsstunden Fleiß und Leistungswillen. Schaut man dann aber auf das tatsächlich erbrachte Arbeitsergebnis, ändert sich das Bild. Ab 50 Wochenstunden sinkt die Effektivität deutlich. Bei mehr als 55 Stunden geht sie dramatisch zurück.
Es ist im Grunde genommen ähnlich wie in der Physik: Dort versteht man unter Leistung verrichtete Arbeit bezogen auf benötigte Zeit. Und die fällt bei dauerhafter Belastung in sich zusammen.
Wenn also Studien zeigen, dass der Kult der vielen Stunden magere Dividenden abwirft, dann stellt sich die Frage umso drängender:
Warum rackern wir uns trotzdem ab?
Es gibt verschiedene Motive. – Über einige habe ich hier geschrieben: Was motiviert Menschen, etwas zu tun?
Darüber hinaus möchte ich den britisch-schweizerischen Schriftsteller und Philosoph Alain de Botton zu Wort kommen lassen. Der sieht in der Arbeit neben der Liebe den wichtigsten Quell für den Sinn des Lebens.[3]
Nehme ich de Botton wörtlich, arbeiten viele so angestrengt, weil sie in ihrer beruflichen Tätigkeit den Sinn ihres Lebens zu erkennen meinen. Oder ist das restliche Leben derart sinnbefreit, anstrengend oder schwierig, dass man sich in die Arbeit flüchtet?
Nicht wenige, denke ich mir, sind schlicht zwei „Drogen“ erlegen: der Aussicht auf Macht und der Aussicht auf Reichtum.
Eine wenig bekannte Perspektive
Für mich gesellt sich noch ein weiterer theologischer Aspekt dazu: Menschen sind für die Arbeit geschaffen. Davon spricht in der Bibel das Buch Genesis in seinen ersten Kapiteln. Sie sollen den Garten Eden bewirtschaften und sich die Erde untertan machen. Und sie sollen genießen, was ihre Hände geschaffen haben.
Die pervertierte Form dieses biblischen Auftrags ist der Kult der langen Stunden. Wie ich darauf komme?
In der Bibel wird vom Sündenfall der Menschheit berichtet. Ein wichtiger hebräischer Wortstamm für Sünde, sündigen, aber auch entsündigen und reinigen lautet „חטא (cht’)“ und bedeutet so viel wie „einen Fehler machen oder ein Ziel verfehlen“, erklärt Dr. Eli Lizorkin-Eyzenberg, Dekan der Fakultät für Jüdische Studien bei eTeacher.
Die Idee der Arbeit, die Gott ursprünglich für Menschen vorgesehen hatte, haben diese „verschlimmbessert“ und ins Extrem gedreht. Damit hat sie in ihrer Form als Kult der langen Stunden das göttliche Ziel verfehlt und ist zum Fluch geworden.
Dauerhaft übermäßige Arbeit als „Sünde“ oder sogar Fluch? Das würde bedeuten, dass Sie, wenn Sie das nächste Mal Elon Musk oder irgendjemand anderes über 60, 70 oder 80 Wochenstunden prahlen hören, dann – wie beim Biathlon – nüchtern feststellen könnten: „Junge, du hast das Ziel verfehlt! Extrarunde drehen!“
Zum guten Schluss noch ein paar Lesetipps zu verwanden Themen:
[1] https://www.zdf.de/nachrichten/politik/ueberarbeitung-tote-un-100.html (am 17.5.2021)
[2] „We need to be constantly reminded that work is only one way to orient life. Life is multidimensional. Success can be sustained only when the majority of life’s domains thrive together. “ Hyatt, Michael. Win at Work and Succeed at Life (S.53). Baker Publishing Group. Kindle-Version.
[3] Alain de Botton, Freuden und Mühen der Arbeit, Verlag Carl Hanser, München 2009
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