Es gibt Dinge, die sind so verrückt, dass man sie kaum glauben will. Dazu gehört die Geschichte von Dr. Ignaz Semmelweis, einem österreichischen Arzt ungarischer Herkunft.
Sicher fragen Sie sich, was denn so besonders an diesem Mann ist. Die Antwort ist verblüffend einfach. Sie hat Dr. Semmelweis berühmt gemacht, ihn aber auch die Karriere als Chirurg und Geburtshelfer gekostet.
Eine erschütternde Beobachtung
Mitte des 19. Jahrhunderts hatte der Arzt eine beunruhigende Beobachtung gemacht: In den öffentlichen Kliniken verstarben junge Mütter häufiger an Kindbettfieber als bei privaten Entbindungen. Dieses Problem war europaweit bekannt. Zwischen 10 und 30 % der Frauen verstarben wenige Tage nach der Geburt an den Folgen des Kindbettfiebers. Diese Krankheit stellte eine ernsthafte Gefahr für junge Mütter dar.
Semmelweis führte die hohe Sterblichkeit auf mangelnde Hygiene beim medizinischen Personal zurück. Er ordnete bestimmte hygienische Maßnahmen an[1] und konnte so die Sterblichkeit in dem Wiener Allgemeinen Krankenhauses, in dem er arbeitete, von 18% auf etwa 1 % senken.
Semmelweis veröffentlichte seine Beobachtungen und Thesen 1847/1848 in einer Studie, die übrigens bis heute als frühes Beispiel wissenschaftlichen Arbeitens gilt.
Problem und Lösung lagen buchstäblich auf der Hand
Es war seinerzeit nicht üblich, was heute gang und gäbe ist: Ärzte waschen und desinfizieren sich nach jeder Behandlung die Hände. Dieser Missstand führte damals dazu, dass Ärzte unfreiwillig zu Überträgern gefährlicher Keime wurden, an denen Wöchnerinnen erkrankten und schließlich starben.
Dr. Ignaz Semmelweis nahm den Kampf auf und musste erleben, dass seine neumodischen Ideen als „spekulativer Unfug“ von der breiten Ärzteschaft, darunter prominente österreichische Mediziner, abgelehnt wurden. Hygiene war aus damaliger Sicht eine Zeitverschwendung.
Diese reflexartige Ablehnung der neuen wissenschaftlichen Erkenntnis ist im angloamerikanischen Kulturraum als Semmelweis-Reflex in die Geschichte eingegangen und beschreibt die „unmittelbare Ablehnung einer Information oder wissenschaftlichen Entdeckung ohne weitere Überlegung oder Überprüfung des Sachverhaltes“[2].
Leider hat Ignaz Semmelweis zu seinen Lebzeiten nicht die Anerkennung erlangt, die ihm schließlich posthum zuteilwurde. Im Gegenteil, infolge der permanenten Auseinandersetzungen wurde er depressiv und schließlich, gegen seinen Willen, in ein psychiatrisches Krankenhaus eingewiesen, wo er kurze Zeit später unter fragwürdigen Umständen verstarb.
Gibt es den Semmelweis-Reflex noch immer?
Was meinen Sie: Würde derart ausgeprägte Ignoranz heute noch vorkommen? Sie ahnen es: Sie ist weiter verbreitet als einem lieb ist!
Eines der prominentesten Opfer des Semmelweis-Reflexes ist Kodak. Einst war Kodak unumstrittener Marktführer in Sachen Film und Fotografie und, das weiß kaum jemand, sogar Erfinder der Digitalfotografie!
Es waren Kodak-Ingenieure, die die bahnbrechende Erfindung machten und Kodak-Führungskräfte, die es besser wussten und der verrückten Idee der Digitalfotografie eine Absage erteilten. – Mir fällt dazu nur eine Frage ein: Kennen Sie ein Smartphone ohne Digitalkamera? Kodak saß buchstäblich auf einer Goldgrube und war nicht in der Lage, das zu erkennen.
Nick Swinmurn hatte 1999 ebenfalls eine ungewöhnliche Idee. Er wollte Schuhe im großen Stil online verkaufen. Egal, wen er ansprach, alle potenziellen Investoren winkten ab. Der Kundendienst und die Logistik erschienen als unüberwindbare Hürden, die Aussicht, Geld zu verdienen, gering. Nur Tony Hsieh besaß die nötige Vorstellungskraft und investierte. So wurde Zappos geboren und – zehn Jahre später – von Amazon für 1,2 Milliarden USD gekauft.
Was lerne ich aus dieser Geschichte?
1. Auch wenn alle von Innovation reden, sie ist längst nicht so willkommen, wie man das von der Rhetorik her meinen könnte.
Die Gründe dafür sind vielfältig:
Beispielsweise haben viele Menschen eine ausgeprägte Trägheit. Sie ziehen es vor, wie bisher weiterzumachen, weil die Alternative aufwändig wäre. Lieber setzen sie auf Bewährtes, als Geld in eine fixe Idee zu investieren.
Zum anderen können Innovationen bedrohliche Folgen nach sich ziehen. Sicher gemeinte Pfründe geraten mit einem Mal in Gefahr. Menschen mögen das nicht und greifen nach Mitteln und Methoden, um vermutete Gefahren zu bekämpfen.
Schließlich gibt es eine gewisse intellektuelle Überheblichkeit, die hinderlich sein kann. – Ich denke an hochintelligente und erfahrene Fachleute, denen es schlicht an der nötigen Vorstellungskraft fehlt oder die nicht bereit sind, außerhalb der üblichen Konventionen zu denken.
Aber da ist noch etwas anderes, das ich mitnehme:
2. Gute Vorbereitung ist essenziell.
Dazu gehört, sattelfest zu sein. Aber auch bereit zu sein, strategische Allianzen zu schmieden. Notfalls muss man bereit sein, eigene Wege jenseits ausgetretener Pfade zu gehen.
Schließlich die vermutlich schwierigste Herausforderung:
3. Trotz aller Leidenschaft und persönlicher Betroffenheit muss man die Fähigkeit kultivieren, Ablehnung nicht persönlich zu nehmen.
Soweit das heute nachvollzogen werden kann, scheint hier die Schwäche von Ignaz Semmelweis gewesen zu sein. Er hatte offenbar die Kritik an seinen Erkenntnissen als Angriff auf seine Person gewertet und war daran innerlich zerbrochen.
[1] Semmelweis führte die Chlorkalkwaschung der Hände ein.
[2] Siehe auch https://www.deutsche-biographie.de/sfz80024.html
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