Charisma – das gewisse Etwas

Podcast: Charisma – das gewisse Etwas

Ich sitze als Teil einer größeren Gruppe in einem Raum. Geduldig warten wir, bis es so weit ist. Plötzlich öffnet sich die Tür und „sie“ betritt den Saal. Ihr Erscheinen gleicht einem Auftritt. Sie strahlt etwas Besonderes aus. Binnen kürzester Zeit gelingt es ihr, die volle Aufmerksamkeit aller auf ihre Person zu richten. 

Spätestens als sie das Wort ergreift, weiß es auch der Letzte: Am Rednerpult steht eine Frau, die faszinierend und fesselnd kommunizieren kann.

Ich lausche gespannt der Rede. Diese Frau hat Charisma. Ihr gutgelauntes Auftreten verstärkt ihre Botschaft.  Es ist völlig klar, sie hat das gewisse „Etwas“. Und sie scheint im Vorfeld gut gecoacht worden zu sein. Respekt!  

Aber je länger ich zuhöre, desto unruhiger werde ich. Was mich genau stört, vermag ich noch nicht zu sagen. Nur so viel: Ich vermisse Substanz. 

Szenenwechsel. 

Ich sitze in der Cafeteria. Mein Termin mit dem Chefredakteur um 9 Uhr hatte zweimal geändert werden müssen. Jetzt ist es Mittag. Der Sekretärin ist die Terminverschiebung peinlich. Als kleine Wiedergutmachung hat sie mich zum Mittagessen in die Kantine eingeladen. Und jetzt? Jetzt warte ich seit einer Dreiviertelstunde auf den besagten Chefredakteur, wohlwissend, dass er ein vielgefragter Mann ist und ich ein lästiger Student bin. 

Innerlich habe ich mich schon verabschiedet, da öffnet sich die Tür und ein gestresster Mittfünfziger steuert auf mich zu. Wir begrüßen uns und mir ist augenblicklich klar, dass das heute mit meinem Anliegen nichts werden wird. 

Nach ein paar Minuten öffnet sich die Tür der Kantine erneut. Herein tritt ein Mann, der mir als der Chef des Unternehmens vorgestellt wird, Horst Marquardt sein Name. Er setzt sich zu uns, und ich werde gebeten, mein Anliegen zu wiederholen. Also beginne ich noch einmal. Herr Marquardt hört aufmerksam zu und stellt ein paar Fragen. Ich fühle mich wahrgenommen und habe auch nicht den Eindruck, mit dem, was mich bewegt, lästig zu sein. 

Nachdem ich mein Anliegen vorgetragen habe, ergreift er meine Hand, schaut mir in die Augen und sagt: „Auf jemanden wie Sie habe ich gehofft.“ 

Damit hatte ich nicht gerechnet. Und auch nicht damit, dass in den nächsten zwei Stunden der rote Teppich für mich ausgerollt wird. Jeder im Unternehmen hat plötzlich Zeit. Mir werden alle Fragen bereitwillig beantwortet. 

Das war vor 43 Jahren. Ein Jahr nach dieser Begebenheit habe ich bei dem Unternehmen angeheuert. Noch heute erinnere ich mich an jedes Detail dieser Begegnung. Horst Marquardt hatte eine beeindruckende Persönlichkeit. Er besaß Charisma und er hat gewusst, wie er das zu seinem und meinem Vorteil nutzen konnte. 

Charisma – ein echter Schatz

Wer über Charisma verfügt, der hält einen echten Schatz in seinen Händen. Das ist vor allem jenen schmerzhaft bewusst, denen dieses Wesensmerkmal abgeht. 

Es gibt aber auch eine andere, dunkle Seite. Weil über die selten gesprochen wird, möchte ich heute diese Seite thematisieren.  

Wenn charismatische Persönlichkeiten eine Führungsrolle bekleiden, dann ist es in der Regel die des habituellen Leiters. – Ich habe vor einiger Zeit einen Blog/Podcast zum Thema habituelle Führungspersönlichkeiten verfasst. Sie finden hier den Link zum Artikel „Welcher Führungstyp sind Sie?“ 

Charismatische Leiter sind nicht unbedingt effektiv

So wertvoll es ist, wenn man Menschen beeindrucken oder begeistern kann, bei genauem Hinsehen ist diese Eigenschaft lediglich eine nette Beigabe. Sie hat nur begrenzte Auswirkung auf die Effektivität einer Führungsperson oder die Performance des Unternehmens. 

Es ist eine Sache, beispielsweise ein „Menschenmagnet“ oder ein herausragender Speaker zu sein, also jemand, der oder die mit Worten oder Präsenz Wirkung erzielen kann. Es ist etwas völlig anderes, quantifizierbare Erfolge zu generieren. Strategisches Denken, Biss und Umsicht sind auf die Dauer wertvollere Wesensmerkmale als eine strahlende Persönlichkeit. 

Oberflächliche Beziehungen 

Ein echtes Problem kann beispielsweise der Umstand sein, dass charismatische Persönlichkeiten ihre liebe Not haben können, wenn es darum geht, tiefe Beziehungen einzugehen.  

Häufig steht ihnen ausgerechnet ihr Charisma im Weg. Ihre Beziehungen tendieren dazu, oberflächlich und deshalb wenig tragfähig zu sein. Das wissen sie und verspüren infolgedessen den Drang, die Zuneigung oder Aufmerksamkeit ihres Gegenübers (oder der Gruppe von Menschen, denen sie vorstehen) zu sichern, und, wenn irgend möglich, sogar auszubauen. 

Das kann dazu führen, dass charismatische Personen früher oder später ungesunde Kompromisse eingehen. Sie tun Dinge, um zu gefallen und nicht, weil es richtig ist, dieses oder jenes zu tun. Die englische Sprache kennt für diese Haltung eine treffende Bezeichnung: people pleaser.

Toxische Verhaltensmuster

Charismatische Persönlichkeiten sind häufig unbewusst auf der Suche nach Bewunderern. Infolgedessen gehört es zur traurigen Wahrheit, dass eine fehlgeleitete charismatische Begabung zu Narzissmus (Selbstverliebtheit), autoritären und unethischen Verhalten führen kann. 

Mich führt das zu der Frage: Wenn ich von mir weiß, dass ich eine charismatische Persönlichkeit habe, wie kann ich Fehlentwicklungen vorbeugen? Was kann ich tun, um meine Begabung in gesunde Bahnen zu lenken? 

Unternehmensberater Christian Muntean aus Anchorage in Alaska vermittelt wertvolle Hilfestellungen, die ich nachfolgend wiedergeben möchte. Den Blog, aus dem ich zitiere, finden Sie hier

Wie ich vorbeugen kann

Muntean schreibt: 

  1. Entwickeln Sie echten Charakter und Integrität. Kultivieren Sie starke moralische Prinzipien, pflegen Sie Authentizität und üben Sie Demut.
  2. Legen Sie Rechenschaft über sich selbst ab. Tun Sie das vor allem gegenüber Menschen, die sich nicht von Ihnen vereinnahmen lassen. Suchen Sie sich im Bedarfsfall einen Mentor, einen Coach oder eine Gruppe Gleichgesinnter, die Sie respektieren, aber nicht beeindruckt sind.
  3. Bauen Sie Weisheit, Wissen und Kompetenz auf. Entwickeln Sie Fachwissen, strategisches Denken und Entscheidungsfähigkeiten.
  4. Liefern Sie sinnvolle Ergebnisse und erzielen Sie Wirkung. Setzen Sie Ihre Ziele durch und erzielen Sie positive Ergebnisse, die der Organisation und ihren Interessengruppen zugute kommen.
  5. Schaffen Sie Vertrauen durch Mitgefühl und Rücksichtnahme auf andere. Bringen Sie Ihr Selbstvertrauen mit Bescheidenheit, Einfühlungsvermögen und Rücksicht auf die Interessen anderer in Einklang.
  6. Verbessern Sie sich ständig selbst und lernen Sie aus Fehlern. Entwickeln Sie das nötige Selbstbewusstsein, um Wachstumsbereiche zu erkennen, aus Fehlern zu lernen und Ihre Führung weiterzuentwickeln.

Soweit Christian Muntean. 

So, wie ich ihn verstehe, schlägt er weitreichende Verhaltensänderungen vor. Anstatt das wohltuende Licht der öffentlichen Zuneigung zu genießen, rät er mir, an meinem Charakter zu arbeiten. Und er empfiehlt, die eigenen Fachkompetenzen konsequent weiterzuentwickeln und in Bescheidenheit zur Anwendung zu bringen. 

Werden diese Eigenschaften durch ein charismatisches Wesen ergänzt, entsteht eine Persönlichkeit, die im besten Sinne des Wortes Bewunderung verdient und auch bekommt.   

Bildquellen

  • Happy delightful man: wayhomestudio / www.freepik.com

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