Was ist das Stockdale Paradox?  

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James Bond Stockdale ist ein Name, der sich mir eingeprägt hat. Nein, der Mann hat nichts gemein mit dem Actionheld, der mit atemberaubenden Stunts über die Leinwand jagt und Bösewichte aller Art zur Strecke bringt. 

James B. Stockdale ist auf seine ganz eigene Weise ein großer Held. Immerhin hat der Marineoffizier 7 Jahre im Hanoi Hilton verbracht, dem berüchtigten Hỏa-Lò-Gefängnis für politische Gefangene im damaligen Nordvietnam. Während dieser Zeit wurde er grausamen Schikanen ausgesetzt und immer wieder brutal gefoltert. Was dieser Mann zu ertragen hatte, muss die Hölle gewesen sein.    

Und trotzdem: Anders als viele seiner Mitgefangenen ist Stockdale nicht als gebrochener Mann aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrt. 

Stockdales Geheimnis

Was gab ihm die Kraft, seinen Peinigern zu widerstehen? In den dunkelsten Stunden einfach weiterzumachen, just dann, als die Lage aussichtslos war? 

Der Managementexperte Jim Collins hat das Geheimnis von James Stockdale in seinem Bestseller „Der Weg zu den Besten“ beschrieben. Hier ist der Link zum Buch oder wahlweise zur Kindle-Ausgabe.

Collins beschreibt, dass es James Stockdale gelang, auf der einen Seite realistisch mit seiner Situation und den düsteren Aussicht en umzugehen. Andererseits blieb er trotz aller Härten und Rückschläge optimistisch. Stockdale glaubte daran, dass er es nach Hause schaffen werde. Irgendwann. Irgendwie. 

Folgende Worte werden ihm zugeschrieben: „Über den Glauben an ein gutes Ende, – an dem du immer festhalten musst, – darfst du nicht vergessen, dich mit den brutalen Tatsachen der momentanen Situation auseinanderzusetzen, so schlimm diese auch sein mögen.“

Ich finde diese Haltung zutiefst beeindruckend, denn es erfordert einerseits schonungslose Ehrlichkeit und Bereitschaft, die Umstände anzunehmen, wie sie sind. Andererseits die Kraft aufzubringen, trotz aller Widerwärtigkeiten an der großen Vision („Wir werden heimkommen“) festzuhalten und diese Hoffnung vor den Augen der anderen zu leben. 

Ich finde, dass der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj das in vorbildlicher Weise lebt: In seiner Kommunikation nimmt er kein Blatt vor den Mund. Er beschönigt die Lage nicht. Im Gegenteil. Er spricht offen und eindringlich über den Ernst der Situation. 

Gleichzeitig gelingt es ihm, durch vorbildliches Handeln und überzeugende Worte, den Kampfgeist seiner Landsleute zu wecken und ein bisschen Zuversicht zu verbreiten. 

Wenn ein Nuklearreaktor zu explodieren droht

Am 11. März 2011 beschädigt eine 15 Meter hohe Tsunami-Welle Teile der Fukushima Daiichi Reaktoranlage. Vorausgegangen war ein Erdbeben der Stärke 9. Die Wogen zerstörten die Notstromaggregate, die Seewasserkühlpumpen und die elektrische Verkabelung vollständig. Die Folge: Es kam zur nuklearen Katastrophe. Mehrere Reaktoren explodierten.

Was wenige kennen, ist das Schicksal der Reaktoranlage Fukushima Daini, einem Atommeiler weniger als 8 km entfernt von Fukushima Daiichi. Trotz schwerster Schäden kam es dort nicht zur Kernschmelze. Der GAU konnte vermieden werden. Warum? 

Dem leitenden Ingenieur Naohiro Masuda gelang es zusammen mit seinen 400 Mitarbeitern, die kritische Lage des Reaktors richtig einzuschätzen. Wie schon zuvor bei James Stockdale kommunizierte Masuda seinen Mitarbeitern die schonungslose, ungeschminkte Wahrheit. Diese Transparenz und der Umstand, dass es eine – wenn auch vage – Chance gab, die Katastrophe abzuwenden, befeuerte die Mitarbeiter, das schier Unmögliche zu tun. 

Die Organisationspsychologin Amy Edmondson1 schreibt: „Sie schafften es, 5,5 Meilen extrem schwerer Kabel in 24 Stunden zu verlegen – eine Arbeit, die ein Team von 20 Personen mit Maschinen unter normalen Umständen mindestens einen Monat brauchen würde. Und sie arbeiteten über 48 Stunden lang ohne Schlaf, in einem Zustand enormer Unsicherheit und in Angst um ihr Leben und das ihrer Familien.“2

Nach einem aufopfernden, schier übermenschlichen Einsatz gelang es Naohiro Masuda und seinem Team, eine elektrische Verbindung zwischen den noch intakten Generatoren und den havarierten Reaktoren herzustellen. Die Kühlung konnte etwa zwei Stunden bevor es zu spät gewesen wäre, wieder in Gang gebracht und damit der GAU vermieden werden. – Wenn Sie sich näher für diesen „Krimi“ interessieren, verweise ich auf einen Artikel der Harvard Business Review aus dem Juli und August 2014. Zwei Hinweise: Der Artikel ist in englische Sprache und kostenpflichtig.

Was nehme ich mit? 

Trete ich gedanklich für einen Moment zurück, fällt mir auf, dass ich selten eine Führungskraft erlebt habe, die in einer echten Krise gemäß dem Stockdale Paradox gehandelt hat. Ich frage mich, woran das liegt. 

Vielleicht hat es damit zu tun, dass solche Führungspersönlichkeiten wie Naohiro Masuda und Wolodymyr Selenskyj nicht in der Notlage geboren wurden. Die erforderlichen Befähigungen haben sie im Vorfeld erworben, lange bevor sie in Verantwortung berufen wurden. In der Krise konnten sie dann auf ihre Fähigkeiten zurückgreifen und sie eindrucksvoll unter Beweis stellen. 

Ich habe mich gefragt, ob ich über die innere Statur verfüge, mit ruhiger Hand und Zuversicht auch noch dann zu führen, wenn der Druck sehr hoch ist. Könnten Sie die Spannung aushalten, wenn die Welt um Sie herum kopfsteht oder Sie wegen einer Entscheidung massiver öffentlicher Kritik ausgesetzt wären? 

Ehrlich gesagt, ich bin mir unsicher. Und das hat mich zu der Frage geführt: Was müsste wahr sein, damit ich das hinbekäme? Damit ich mit dieser Spannung funktionieren könnte.   

Mich interessiert, was Sie denken. Gerne können Sie mir schreiben. Sie erreichen mich per E-Mail unter folgender Adresse: info@leitenundleben.de.  

Übrigens, Artikel zu weiteren Führungsthemen finden Sie, in dem Sie auf den Reiter „Leiten“ oder einfach hier klicken

Amy C. Edmondson ist Novartis Professor of Leadership and Management an der Harvard Business School.

Edmondson, Amy C.. The Fearless Organization (S.143). Wiley. Kindle-Version.

Bildquellen

  • Bild-ID 135102377: Joseph Sohm / shutterstock.com

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