Und ich dachte, wir sind Freunde…

„Stell dir vor, das Telefon klingelt nicht mehr,“ sagt mir mein Gegenüber und fährt fort: „Kein Anruf übers Festnetz und auch keiner aufs Handy.“ 

Meine erste Reaktion: Das muss an einem großflächigen Stromausfall liegen. Mein zweiter Gedanke: So etwas dürfte nicht passieren. Ich muss erreichbar sein. 

Und dann erinnere ich mich an eine Folge aus der britischen TV-Erfolgsserie Downton Abbey und schmunzle. Sie spielt Anfang des 20. Jahrhunderts auf einem herrschaftlichen englischen Anwesen. Butler Carlson fragt irritiert einen Fernmeldetechniker, der im Schloss Leitungen verlegt: „Ein Telefon, wer braucht denn sowas?“ (Mehr dazu hier). 

Ja, das Telefon hat seinen festen Platz in unserem Alltag erobert. Es ist nicht mehr wegzudenken. Wehe, es fällt über längere Zeit aus! 

Aber zurück zur oben beschriebenen Situation, in der keiner anruft. Mein Gegenüber pflichtet mir bei: Das wäre in der Tat komisch. Aber noch viel seltsamer wäre das, wenn der Grund keine technische Störung wäre, sondern dem Umstand geschuldet, dass sich niemand mehr für mich interessiert. 

Bevor Sie den Kopf über dieses unwahrscheinliche Szenario schütteln, folgende Information: 

Das ist tägliche Realität hierzulande

Das passiert jeden Tag in unserem Land. Es ist die irritierende Erfahrung, die manch einer macht, der in den Ruhestand eingetreten ist. Vormals hoch im Kurs, stellen die Betroffenen fest, dass sie binnen kurzer Zeit nicht mehr gefragt sind. 

Es trifft nicht nur Rentner. Im Zuge beruflicher Umbrüche kommt es ebenfalls zu einschneidenden Änderungen. Viele Kontakte lösen sich mit der Zeit in Nichts auf. Es ist, als haben die Leute einen vergessen. 

Mir ist das vor ein paar Jahren so ergangen. Ich hatte im Unternehmen eine neue Aufgabe übernommen und musste feststellen, dass sich meine Kontakte von allein neu sortierten.    

Aber Moment mal! Aus dem Blick, aus dem Sinn? Waren da nicht freundschaftliche Verbindungen? Wie kann das sein, dass man so schnell vergessen wird? 

In gewisser Weise ist es ein natürlicher Prozess im Geschäftsleben. Kollegen wechseln den Job. Übernehmen neue Verantwortungsbereiche. Für andere endet die Karriere.  Das passiert jeden Tag. Es ist nichts Ungewöhnliches. 

Aber was nach außen „normal“ aussieht, kann den einen oder die andere aufwühlen, weil sie oder er das, was passiert, nicht einordnen können.  

Eine folgenreiche Frage

Der kanadische Blogger Carey Nieuwhof stellt in diesem Zusammenhang eine interessante Frage: „Könnte es sein, dass diese Leute nie deine Freunde gewesen sind?“ 

Auch wenn es den Anschein hatte, dass man freundschaftlich verbunden war, in Wirklichkeit war man es nicht. 

Aber bevor Sie jetzt falsche Schlüsse ziehen und meinen, dass meine Bekannten geheuchelt haben, möchte ich sagen, dass dem nicht so ist. Wenn überhaupt, dann war es eher eine Selbsttäuschung meinerseits.  

Dafür gibt es gute Gründe, sagt Nieuwhof. Egal, wie sehr man in der professionellen Beziehung auf Augenhöhe achtet, es gibt Faktoren, die immer mitschwingen. Als Vorgesetzter habe ich Macht. Als Untergebener bin ich abhängig. Beides wirkt sich auf die Beziehung zu meinem Gegenüber aus. 

Die Vorzeichen ändern alles

Ist jemand nicht mehr mein Vorgesetzter, ändert sich die Grundlage unserer Beziehung zueinander. Ein wichtiges, in manchen Fällen vielleicht sogar unbewusstes Motiv für die Beziehungspflege entfällt. 

Ich habe beobachtet, dass eine berufliche Veränderung automatisch auch die privaten Beziehungen neu ordnet. Die Folge: Mit der Zeit trennt sich die Spreu vom Weizen. Gute Bekanntschaften schlafen mit der Zeit ein. Es bleiben nur sehr wenige Freunde übrig.

Eines ist in diesem Zusammenhang wichtig. Niemand tut das absichtlich. Es passiert einfach. Nicht zuletzt auch deswegen, weil das Leben weitergeht. Neue Herausforderungen treten an die Stelle von alten. Es bleibt wenig Zeit und Kraft für frühere Kontakte. 

Der zweite Faktor

Es gibt aber noch eine weitere Erklärung dafür, dass Menschen über die Zeit den Kontakt verlieren. 

An dieser Stelle hilft, was der Britische Psychologe Robin Dunbar über das menschliche Miteinander schreibt. Er postuliert, dass Menschen in unterschiedlichen Gemeinschaften leben: 

Die kleinste Einheit besteht aus 3-5 Personen. Das sind die besten Freunde oder die Kernfamilie. Eine weitere Gruppe ist der erweiterte Kreis von 12-15 Freunden. Dann gibt es noch den sogenannten „Stamm“ (Dunbar spricht vom „Tribe“, ein Begriff, der in der Social Media Welt eine neue Bedeutung angenommen hat), zu dem bis zu 150 Personen gehören können. Man könnte auch sagen, die Dorfgemeinschaft früherer Zeiten. Zu größeren Mengen können Menschen dauerhaft keine Beziehung aufbauen. Infolgedessen werden sie einfach „die anderen“. 

Wenn nun Menschen sich beruflich verändern, wandern sie in der Regel aus dem erweiterten Freundeskreis und häufig aus dem „Stammesgebiet“ heraus und geraten so aus meinem Blick. Steure ich nicht aktiv dagegen, weil mir die Beziehung zu diesen Leuten wichtig ist, wird sie an Bedeutung verlieren. Wir vergessen einander mit der Zeit. 

Die andere Seite der Medaille 

Manchmal tut die berufliche Veränderung der Beziehung gut. Befreit von den unausgesprochenen Zwängen der Rolle, eröffnen sich Möglichkeiten für ein tieferes und besseres Miteinander, eine echte Freundschaft. Auch hier habe ich erstaunliche Beobachtungen in meinem eigenen Umfeld gemacht. 

Deshalb komme ich zu dem Schluss, dass mancher Veränderung beziehungstechnisch auch eine echte Chance innewohnt. 

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